Patricia Koelle – Geschichten

Das Meer in deinem Namen

Geschichten der SPIEGEL-ONLINE-Bestseller-Autorin Patricia Koelle

Patricia Koelles Geschichten sind wie eine Lupe, die sichtbar werden lässt, wie groß Kleines sein kann

Herzlich willkommen. Auf diesem Blog finden Sie einige Geschichten aus der Feder der SPIEGEL-ONLINE-Bestseller-Autorin Patricia Koelle.

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Bestsellerromane von Patricia Koelle

Patricia Koelle: Das Meer in deinem Namen Patricia Koelle: Das Licht in deiner Stimme Patricia Koelle: Der Horizont in deinen Augen
Patricia Koelle: Die eine, große Geschichte Patricia Koelle: Alles voller Himmel. Roman

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Geschichten, Kurzgeschichten, Erzählungen, Autorin, Patricia Koelle, SPIEGEL ONLINE Bestseller, Bestsellerautorin, Literatur, Lesen

Himmelangst

Himmelangst

© Patricia Koelle
 

Die Stadt schlief nur zum Teil und der Himmel auch, denn die Stadt war so lebendig hell, dass es auf den Himmel abfärbte und er nie ganz das Licht verlor. Es war die letzte Augustnacht. Regina lief an den kleinen Dunkelheiten in den Hauseingängen vorbei zum Dienst. Dies war ihre liebste Jahreszeit, nicht weil heute ihr Geburtstag war, sondern wegen der Unruhe im Wind, dem ersten Aufflammen in den Blättern und der feuchten Würze im Geruch der Straßen. Zwischen dem wachen Sommer und dem wehmütigen Herbst war die Stadt in ihrem verlockendsten Zustand, ähnlich wie die Steaks von Herberts Grill, voller rauchigem Aroma.
Ihr Ziel war der Flughafen. Oft sah es aus, als atme die Stadt die Flugzeuge aus der Luft herunter wie glänzende Fliegen und stieße sie Minuten später mit dem nächsten Atemzug wieder aus, auf ihren weiteren Weg den Himmel entlang.
Auch Regina war auf diese Art in die Stadt gekommen. Früher einmal war sie Chemielaborantin gewesen, in einer anderen Stadt, auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Leben. Jetzt putzte sie nachts auf dem Flughafen, wo sich die Menschen brisanter mischten als damals die Chemikalien in ihrem Labor.
„Hallo, Frido“, sagte sie zu dem Obdachlosen, der auf der Heizung neben dem Souvenirladen döste.
Frido öffnete ein Auge. „He, Regina.“
Regina fischte eine Tüte mit zwei Äpfeln und drei belegten Vollkornbrötchen aus dem neuen septembergelben Putzeimer, den sie sich zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte eine Schwäche für Putzeimer und besaß für jeden Monat eine andere Farbe. Die grauen Eimer, die ihr die Firma stellte, fasste sie nicht an.
„Och, Gina“, sagte Frido. „Das ist doch gesund!“
„Drum“, sagte Regina und ging weiter.
Jetzt, kurz vor Mitternacht, herrschte fast Ruhe auf dem Flughafen. Ins Ohr fiel nur das Summen der elektrischen Putzwagen. In die Warteräume kamen diese Wagen nicht. Hier war Regina zuständig.
„Hallo, Jungs“, begrüßte sie die Sicherheitsbeamten und stellte ihren Putzeimer zum Durchleuchten auf das Fließband. „Heute muss ich aber wieder mal das hier mit reinnehmen.“ Sie hielt ein spitzes Messer und eine Flasche mit Lösungsmittel hoch, auf deren Etikett ein Totenkopf und eine Flamme rot leuchteten.
„Mensch, Regina, wen willste denn ermorden?“, fragte einer der Beamten grinsend.
„Die Kaugummis auf dem Boden“, sagte Regina und hob die Arme zum Abtasten.
Der Beamte fuhr mit seinem Gerät Reginas großzügigen Umriss ab. Nichts piepte.
„Dann geh du halt mit, Matthias“, sagte der Beamte und bedeutete einem jungen Kollegen mit einer Kopfbewegung, Regina in den Sicherheitsbereich zu folgen. „Weißt ja, es ist Vorschrift.“
Matthias trug seine Schüchternheit vor sich her, als könnte er damit gegen etwas stoßen, und seine Uniform war ihm noch so neu, dass sie unbehaglich an seinen langen Gliedern unterwegs war. Höflich brachte er Regina den Eimer hinterher. Während sie sich zwischen den Stuhlreihen auf den Knien niederließ und den Boden mit dem Messer bearbeitete, stand er daneben und ließ seinen Blick auf das Flugfeld wandern, wo die Lichter die Parkpositionen erhellten. Er fand den blauen Schein beruhigend.
Um diese Zeit starteten und landeten nur Postflugzeuge. Bei Tag warteten auf den Sitzen die Passagiere mit ihren durcheinandersummenden Worten darauf, dass man sie zum Ziel brachte, jetzt die Briefe mit den stillen Worten darin. Die Post nach Hannover bekam Reihe zwei, die für Freiburg Reihe drei, als könnte man das Land in ordentliche Reihen unterteilen. Matthias sah den Lichtern einer Maschine nach, die zwischen den vom Schein der Stadt unbeeindruckten Sternen des Großen Bären zu verschwinden schien und dachte darüber nach, was sie so alles von Stadt zu Stadt trug, während die Menschen unten kleine Träume träumten. Hochzeitseinladungen, Todesanzeigen, Liebesbriefe, erschreckende Rechnungen, Bewerbungen, die Spuren großer Schicksale.
Als Matthias seinen Blick wieder einfing, bemerkte er in Reginas Nacken einen Tropfen Schweiß, der sich auf den Weg ihren Rücken hinunter machte.
Den ganzen Tag über stiegen bei den Reisenden bedrohliche Gedanken in die Leere der Wartezeit hinein. Beim Abflug hinterließen sie sie der Stadt. Wie winzige graue Särge klebten die Kaugummis auf dem Kunststoff und schlossen die Flugangst ein und die Unruhe der Menschen, die sie hineingebissen, dann ausgespuckt und schließlich mit Füßen getreten hatten.
Regina schabte und schabte. Seltsam, aber seit der Katastrophe vom elften September hatte sie immer das Gefühl, vorsichtig mit dem Boden sein zu müssen, als wäre der an jenem Tag zerbrechlicher geworden. Als wäre nun die Erdkruste dünner, auf der das Leben steht.
Die Stadt schlief ihren hellen Schlaf und dachte selten an solche Dinge, doch wer den Flughafen betrat, wurde daran erinnert, Tag für Tag.
Dass Menschen, wie sie selbst einer war, Kinder als Geschosse benutzt haben, Kinder die ein Leben hätten haben sollen und geworden wären wie der eifrige Matthias, der am Fenster träumte, oder wie ihr Sohn, der ihm ähnelte, oder wie Frido draußen in der Halle, der wenigstens glücklich über das bisschen Heizungswärme unter ihm war. Regina konnte es noch immer nicht fassen. Seitdem spürte sie einen Riss in dem Himmel, durch den sie täglich die Flugzeuge fliegen sah. Zuvor waren sie hell und vertraut, silberne Funken, die zu Fernweh verführten und Träume und Zukunft in die Höhe trugen. Nun aber schlich das Wissen herum, dass sich an irgendeinem beliebigen Tag dieselben freundlichen Alltagsmaschinen in Mordwerkzeuge verwandeln könnten, wenn es jemand wollte und die Vorsicht schlief. Und alle noch so bunten Putzeimer würden nichts dagegen nützen.

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Patricia Koelle
Die Füße der Sterne

Taschenbuch, eBook Amazon Kindle und epub-Format

Patricia Koelles Geschichten sind eine Lupe, die sichtbar werden lässt, wie groß Kleines sein kann. Es sind Geschichten für das verträumte Ende eines Feierabends, den Beginn eines Wochenendes oder die Bahnfahrt zur Arbeit. Geschichten von Himmel, Meer und Erde. Geschichten zum Lächeln, zum Nachdenken, zum Gesundwerden, zum Verschenken, voller Hoffnung und realistischem Zauber.

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Flaschenpost vom Meer

Flaschenpost vom Meer

© Patricia Koelle
 

Patricia Koelle: Flaschenpost vom MeerErleichtert befolgte Cory Seling die Anweisungen der Stewardess. Handgepäck unter dem Sitz verstauen, Rückenlehne hochklappen, anschnallen. Sie konnte die Landung kaum noch erwarten. Nicht weil sie ungern flog. Es hatte ihre Stimmung gehoben, die Wolken von oben zu sehen und den winzigen Schatten des Flugzeugs, der darüberglitt, so klein, als hätte er nichts mit ihr zu tun. Sie stellte sich vor, dieser bewegte Schatten wäre ein Radiergummi, der das letzte schlimme Jahr Tag um Tag auslöschte, bis nur noch dieses strahlende Weiß übrig war. Es wäre so schön gewesen.
Jetzt aber, nach neun Stunden, glaubte sie in der verbrauchten Luft zu ersticken. Sie sehnte sich nach Sauerstoff. Nach frischer, echter Luft, die aus einem Tag kam und nicht aus einer Düse.
Unter ihr riss die ewige glatte Fläche des Meeres ab und plötzlich nahes Grün kam dem Flugzeug entgegen. Gerade noch rechtzeitig, wie es schien, tat sich eine Landebahn vor ihnen auf und das Flugzeug berührte den Boden so überraschend weich, dass alle Passagiere klatschten.
Draußen schlug die Luft Cory so heiß und schwer entgegen wie das feuchte Tuch, das sie am Morgen von der Stewardess mit dem automatischen Lächeln gereicht bekommen hatten. Treibstoffgeruch mischte sich mit dem süßlichen Duft der roten und gelben Hibiskusblüten, die das Flugfeld säumten.
Nach allem, was gewesen war, konnte sie kaum glauben, dass sie jetzt hier war, in einer völlig anderen Welt.
Es war noch eine gute Stunde Taxifahrt bis zu ihrer Unterkunft, die sie wahllos aus dem Internet gefischt hatte. Das Bild hatte sie einfach angesprochen und nicht mehr losgelassen.

Sie lehnte sich müde in den Sitz und ihre Gedanken fielen zurück in ihre alte Welt, in die geheimnisvolle verwinkelte Stube ihrer kleinen Buchbinderei, in der es nach Kleber, Tinte, Leder und altem Pergament roch.
Sie kannte diesen Geruch und die verheißungsvollen Schatten in den Winkeln, seit sie denken konnte. Damals hockte sie am liebsten unter der alten Presse, deren Silhouette im Lampenlicht wie ein zahmes Ungeheuer wirkte, und sah den großen, behutsamen Händen ihres Großvaters und ihres Vaters zu, wie sie mit den Büchern hantierten. „Mit alten Büchern muss man umgehen wie mit Menschen“, pflegte ihr Vater zu sagen. „Sie haben ein ganzes Leben hinter sich und beherbergen eine Menge Weisheit. Und sie sind verletzlich. Behandele sie mit Respekt.“
Für Cory war es nie in Frage gekommen, etwas anderes zu lernen als das Buchbinderhandwerk. Auch wenn die elektronischen Medien immer mehr Bedeutung bekamen, so gab es dennoch genug Menschen, die gern mit einem Buch in der Hand ihren Lieblingsplatz aufsuchten und sich ohne Strom und Flimmern für eine Stunde oder zwei in andere Welten tragen ließen.
Es gab auch Menschen, die einfach gern ein schön gefertigtes Buch in der Hand hielten und zärtlich über den Einband strichen. Und es gab Menschen, die uralte, abgegriffene Bücher brachten und darum baten, dass man sie heilen und vorm Verfall bewahren möge, weil sie ein Stück ihres Lebens waren. Auch Büchereien, Bibliotheken und Museen gehörten zu den Kunden. Die Zukunft schien gesichert.
Cory lernte falzen, schneiden, kleben und heften und konnte mit Leinen und mit Leder umgehen. Sie wusste Zeitschrifteneinbände herzustellen, Kästen und Kassetten, übte das Prägen und beherrschte schließlich auch Gold- und Farbschnitte. Ihre Finger waren jung und zierlich und geschickt, und sie war voller Begeisterung.
Und doch hatte es nicht gereicht. Ihr Großvater starb, später ihr Vater. Danach führte sie das Geschäft noch acht Jahre lang weiter. Sie lernte Till kennen und war eine Zeitlang glücklich mit ihm, doch er war eifersüchtig auf die Bücher und ihre Welt im Laden, die er nicht verstand, die sie auch ihm zuliebe nicht aufgeben wollte, und die schließlich ihre gesamten Tage auffraß, bis sie einsah, dass sie verkaufen musste, ehe sie alles verlor. Doch da war er schon gegangen.
Am letzten Tag vor der Schlüsselübergabe an den neuen Besitzer, der ein Pressebüro aus den Räumen machen wollte, sammelte sie noch die ganz alten Bände ein, die zum Teil zur Dekoration und als Modelle auf den Regalen gestanden hatten. Sie war müde, traurig und überarbeitet. Alles war wie in einem unwirklichen Nebel um sie.
Sie hockte sich auf einen alten Schemel und schlug einen schweren Band der Sternkunde aus dem Jahre 1793 auf. „Der Beyfall, mit welchem die erste Auflage meines Buches aufgenommen worden, ist zu schmeichelhaft und ehrenvoll für mich gewesen, als dass ich mich nicht hätte aufgemuntert und verpflichtet fühlen müssen, in dieser Sache, wo möglich, etwas Vollkommeneres zu leisten …“ Aufmunterung, dachte Cory, die könnte ich auch gebrauchen. Sie schlug das Buch wieder zu; sie hatte keine Zeit zum Trödeln.
Da flatterte zwischen den Seiten ein eng und beidseitig von Hand beschriebener Zettel hervor und fiel vor ihre Sandale. Die Tinte war braun und verblichen und das Papier fleckig, die untere Ecke abgerissen.

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Patricia Koelle: Flaschenpost vom Meer
Patricia Koelle
Flaschenpost vom Meer
eBook Amazon Kindle und epub-Format

Eine Flaschenpost oder Piratenschätze findet man heutzutage nur noch selten am Strand. Doch schon mit einem einzigen Urlaubstag bekommen wir Zeit außerhalb unseres Alltags, unseres Ortes, sogar unseres Selbst geschenkt, und dann können uns erstaunlichere, spannendere Dinge geschehen. Wenn wir an diesen langen, hellen Sommertagen genau hinsehen, wenn wir uns auf frischen Wind und auf die Weite einlassen, entdecken wir andere Schätze. Sie eignen sich nicht zum Vorzeigen, aber sie können unsere Zukunft ändern und uns reicher heimkehren lassen.

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Liebe, Lachs und Anderwann

Liebe, Lachs und Anderwann

© Patricia Koelle
 

Patricia Koelle: Liebe, Lachs und AnderwannZwischen den Eichenblättern vom letzten Herbst, die unter ihren Sohlen tuschelten, lag Zeit auf dem Weg. Emi überlegte, was sie damit anfangen sollte. Die Grabsteine rechts und links schwiegen beharrlich. Kein stiller Gruß von Max war ihnen zu entlocken. Nur zwei Amselmänner tobten schimpfend dazwischen herum und rauften sich um ein Weibchen, das mit großen Augen zusah.
„Im Frühling zu streiten ist immer noch besser, als im Frühling allein zu sein“, hatte Max einmal gesagt.
Jetzt war Emi doch allein mit den blühenden Schlüsselblumen, dem hohen frischgewaschenen Himmel und dem Hochzeitsgezwitscher der Meisen. Sie hatte Angst, die letzte Erinnerung an den Klang seiner Stimme würde mit den krümelnden Blättern unter ihren Schritten endgültig verwehen. Und sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, mit jemand anderem als Max zu streiten, zu lachen oder sonst was anzustellen, ob im Frühling oder anderwann.
„Anderwann, das gibt es nicht. Du kannst nicht immer Wörter erfinden!“ Max hatte sie deswegen ausgelacht. Er war Architekt. Er nahm es genau. Das sah sie ein; seine Bauzeichnungen mussten exakt stimmen. Aber sie handelte mit Büchern. Sie musste sich nicht an seine Regeln halten.
„Es gibt ein Anderswo, also gibt es auch ein Anderwann. Im Antiquariat habe ich einmal ein Buch mit diesem Titel verkauft!“
„Und wann soll dieses Anderwann sein?“
Musste man ihm denn alles erklären?
„Na eben nicht jetzt. Dazwischen. Früher. Später. In der Wirklichkeit, im Traum oder in der Hoffnung. Je nachdem. Ich stelle es mir wie ein Nachbarland vor. Ein helles Land, in dem man etwas Anderes ausprobieren kann, weil man eine andere, zweite Zeit zur Verfügung hat.“
Kopfschüttelnd hatte sich Max an seinen Schreibtisch verzogen.

„Autsch!“ Eine Eichel war in ihren Schuh gehüpft. Sie stützte sich auf die Grabstele einer Frau von Tramm, um ihn auszuschütteln, aber der Schuh saß gut und klemmte den drückenden Fremdkörper fest unter ihre Zehen. Sie humpelte zu einer Bank, um ihn auszuziehen.
Dort saß schon jemand. Sie murmelte einen Gruß, war aber zu beschäftigt um hinzusehen.
„Na endlich!“, sagte sie erleichtert, als die Eichel in hohem Bogen ins Gras flog.
„Emilia? Emi Ammer? Biologie, neunte Klasse?“, fragte eine Stimme, die definitiv aus einem längst vergangenen Anderwann kam. Ungläubig sah sie hoch.
Tatsächlich. Diese hellbraunen Augen mit dem Schalk darin! Er war nie besonders auffällig gewesen, ihr alter Lehrer, der gar nicht alt war. Mittelgroß, mittelbraune Haare, unauffällige Nase. Aber die verschmitzten Augen blieben ihr im Gedächtnis und seine Geste, wie er beim Erklären immer mit halb zum Greifen gespreizten Fingern wie ein Magier die erstaunlichsten Fakten aus der Luft holte. Dass bei Seepferdchen die Männer schwanger werden und es Fische gibt, die im Dunkeln leuchten, und Raupen, die einen Hut aus ihrer eigenen abgelegten Haut tragen.
„Herr Siebentritt …?“
„Genau der. Schön, dich zu sehen. Passt zum Frühling. Wie lange ist das her seit der neunten Klasse?“
Sechzehn war sie gewesen. Sechzehn und verknallt. In ihren Biologielehrer. „Siebzehn Jahre.“
Die Zahl hing groß zwischen ihnen. Erschreckend. Unglaublich! Emi überlegte fieberhaft, wo diese Menge Jahre geblieben waren. Hatte Max sie mitgenommen in sein stummes Anderswo, in dem es kein Anderwann mehr gab?
In diesem Augenblick, mit der vertrauten Gestalt Herrn Siebentritts neben sich und der unveränderten Geste, mit der er die unsichtbare Zahl aus der Luft wischte, hatte es diese Jahre nie gegeben.
„Da war ich achtundzwanzig. Und du warst verknallt in mich“, erinnerte sich Herr Siebentritt mit einem Schmunzeln im Mundwinkel.
„Das haben Sie gemerkt?“
„Du hast eine wilde Rose in dem Strauß versteckt, den du mir auf der Wanderung in der Lüneburger Heide gepflückt hast. Die anderen haben auch Sträuße gepflückt, aber sie haben die Rosen nicht versteckt.“
Für einen Moment dieses kühlen hellgrünen Frühlingstages war sie wieder diese verlegene Sechzehn, trug ein gelbes Kleid und Mückenstiche am Knie und pflückte auf der sommerwarmen Heide Ginster, Margeriten und Glockenblumen, Bienengesumm im Ohr, honigsüßen Kleeduft in der Nase und Lerchenzwitschern im weiten blauen Oben. Diese bunten Splitter aus anderen Zeiten waren irgendwo im Keller ihrer Gedanken unter Spinnweben begraben. Mit Max war immer Gegenwart gewesen. Die Anwesenheit Herr Siebentritts aber wischte den Staub von ihnen.
Wenigstens war Verlegenheit schon lange nicht mehr ihr Problem.
„Und dann das eifrige Strahlen, mit dem du dein Referat über die Alveolen gehalten hast“, erinnerte er sich.
„Ja, in dem Alter kann man sogar Lungenbläschen als romantisch ansehen.“ Damals hatte sie es hinreißend gefunden, wie er das Wort aussprach. Al-ve-o-len. Er hatte eine lakritzweiche, dunkle Stimme wie der Märchenerzähler auf dem Weihnachtsmarkt. Immer noch. „Ich war hauptsächlich in Ihre Lachfalten verliebt. Die in den Augenwinkeln aussahen wie ein halber Stern am Ende eines Weges. Ich hätte sie gern angefasst.“
Oh ja, der Schalk wohnte immer noch in seinem Blick. Auch wenn die Jahre an seinen Schläfen inzwischen Raureif hinterlassen hatten.
Vorhin noch hatte ihr die Zeit Angst gemacht, über die sie auf dem Weg gestolpert war. Sie hatte so leer ausgesehen. Jetzt füllte sie sich.
„Warum bist du hier?“, fragte er. „Sollte ich jetzt nicht eigentlich ‚Sie‘ sagen? Oder du sagst Hugo zu mir.“
„Bitte nicht. Es fühlt sich falsch an. Ich bin hier, weil ich Max besucht habe. Meinen Mann. Abteilung 38, Reihe fünf a. Seit zwei Jahren.“

„Was ist passiert, Emi?“ Seine leise Frage löschte die Stille, die sich für einen Moment zwischen sie auf die Bank gesetzt hatte.

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Patricia Koelle: Liebe, Lachs und Anderwann
Patricia Koelle
Liebe, Lachs und Anderwann
eBook Amazon Kindle und epub-Format

Ein ganz normaler Mittwoch beginnt mit einem Lachsbrötchen, das unerwartete Folgen hat.
Emi und Hugo trauern beide um eine verlorene Liebe. Um gegen seine Verzweiflung anzugehen, hat Hugo einen besonderen Tag geplant. Als er zufällig Emi trifft, bittet er sie spontan, ihn dabei zu begleiten. Zusammen entdecken sie, was für Überraschungen unter einem Strohhut liegen können und dass sich im Großstadtdschungel nicht nur Krokodile besiegen lassen.

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Die Füße der Sterne

Die Füße der Sterne

© Patricia Koelle
 

Die Abiturfeier war ein glorreicher Rausch der Erleichterung gewesen. Sofian hatte es gewagt, mit Frau Berger, seiner Deutschlehrerin, zu tanzen, die ihm niemals eine bessere Note als eine Vier gegeben hatte. Felix hatte sich getraut, in einer dunklen Ecke des zugigen Balkons Cornelia zu küssen. Darauf hatte er seit drei Jahren gewartet.
Sie hatten das Fest von der frühen Abenddämmerung bis zum ersten Verdacht auf den neuen Morgen ausgekostet. Sofian hatte extra für diesen Tag drei seiner krausen schwarzen Zöpfe königsblau färben lassen, und Felix trug einen nagelneuen Bürstenschnitt.
Jetzt standen sie etwas ratlos und eigenartig wach unter einem feuchten Himmel, der gnadenlos heller wurde. Das Dröhnen der Musik zitterte noch in ihren Köpfen und ihre Augen brannten von Wunderkerzen und Zigarettenqualm. Plötzlich war die Zukunft ungeheuerlich groß und fremd vor ihnen und so nahe, dass sie kaum noch einen Schritt wagten. So viele endlose Schuljahre war ihnen alles gemeinsam begegnet. Was würde werden, wenn nun ihre Wege begannen? Was sollten sie mit den nächsten Tagen anfangen?
„Weißt du was?“, sagte Felix. „Wir fahren weg!“
Egal wohin, nur einen Aufschub gewinnen. Irgendwo den ersten Zipfel dieser unvorstellbaren Zukunft finden und greifen.
„Ich kann bestimmt das Auto von Max haben. Wenn ich dafür die Werkstatt putze“, sagte Sofian. Zum Glück hatte nicht nur der Lehrling seines Vaters den Führerschein, sondern seit zwei Monaten auch er selbst.
„Und ich das Zelt von Onkel Jörg.“
Den Rest des Tages verschliefen sie, packten abends das Auto und brachen früh am nächsten Morgen auf.
Sie fuhren nach Norden, denn der war ihnen am nächsten, und sie sehnten sich nach Platz für ihre Fragen, nach Stille und klarer Luft und der Weite über dem Meer.
„Ich habe das Zelt nur unter der Bedingung bekommen, dass ich mich bei unserer Rückkehr entschieden habe, was ich für eine Ausbildung machen will“, sagte Felix.
„Und ich muss in der Autowerkstatt mithelfen. Am liebsten wäre Vater, dass ich gleich eine Lehre bei ihm mache.“
Wo war der schäumende Triumph vom Abend der Abi-Fete geblieben, das Glück darüber, die Schulzeit endgültig hinter sich gelassen zu haben, das Gefühl, am Rande des Abenteuers zu stehen, der Glaube, dass alles möglich war?
Doch vor sich hatten sie erst mal ein geliehenes Wochenende, Tage für sich, außerhalb der Zeit.
An der dänischen Grenze tauschten sie ein wenig Geld. Die unbekannten Scheine mit den bunten Fischen und Blumen darauf begeisterten sie. Sie wirkten wie Spielgeld und nahmen der Zukunft etwas von ihrem erschreckenden Ernst.
Stundenlang brausten sie die Straßen entlang, weiter als geplant. Das war der Vorteil einer so langen Freundschaft. Felix und Sofian kannten sich gut genug, um sich auch schweigend vorwärts träumen zu können. Sie waren sich nicht immer einig, aber wenn sie es waren, brauchten sie keine Worte mehr dafür. Es war einfach gut, allein miteinander in dieser geschlossenen kleinen Autowelt unterwegs zu sein und die Musik zu hören, an der entlang sie gemeinsam erwachsen geworden waren.
Am Spätnachmittag hielten sie auf einem kleinen grasigen Campingplatz an der Küste.
Nun klebte ihr Zelt gewölbt und fest am Boden wie eine grüne Samenkapsel, aus der Erstaunliches wachsen könnte, irgendwann.
„Los jetzt, ans Wasser!“, drängte Felix.
Sie rannten im feuchten Sand einen Strand entlang, dessen Ende man weder nach Süden noch Norden erkennen konnte und an dem sich keine andere Menschenseele umtrieb. Ein schmaler Fjord fraß sich glitzernd ins Land. Alles schien größer als sonst, der Strand eine Wüste, das Meer ein Universum, nur weil mit der Schule die tägliche Gewohnheit verloren gegangen und die Zukunft noch neu und leer war.
„Traust du dich rein?“, fragte Felix und zog schon sein Hemd aus.
Noch war Frühling, und selbst das Meer hatte eine Gänsehaut. Sofian zögerte. In den Ferien war seine Familie stets in die alte Heimat auf einer Insel gefahren, wo Palmen wuchsen und das Wasser warm und türkisblau war und nicht wie hier eisgrau und flaschengrün. Aber hatten Felix und er sich mit dieser Fahrt nicht beweisen wollen, dass sie keine Scheu hatten vor dem, was kam? Zum Glück fiel gerade die Sonne aus der Wolkendecke heraus zum Horizont hin und warf ihnen ein Schimmern zu, das lockte. Felix rannte los und Sofian folgte ihm. Lachend stürmten sie die Wellen, warfen sich mit den Armen hohe Bögen aus zwinkernden Tropfen zu und ließen sich in ein Wettschwimmen fallen, bis alles prickelte und die Kälte vergessen war.
Keuchend hockten sie sich auf Felsen im flachen Wasser. Die Sonne war gerade eben verschwunden, aber die Dämmerung war hell und klar wie Glas und es herrschte eine silberne Windstille. Sie konnten bis auf den Grund sehen.
„Oh, ein Seestern“, sagte Felix erstaunt und bückte sich danach.
„Halt“, rief Sofian, „nicht!“
„Was ist?“
„Wenn Seesterne Luft einatmen, sterben sie. Wenn du sie aus dem Wasser nimmst, musst du ihre Atemöffnung zuhalten, so.“ Sofian griff nach dem Stern und legte dabei sorgsam den Daumen auf die Mitte der Unterseite, ehe er ihn aus dem Wasser hob. „Jetzt kannst du ihn ansehen.“
Gemeinsam betrachteten sie das seltsame Lebewesen, das kein Gesicht hatte. Der Seestern hatte fünf Arme und einer war kürzer als die anderen. An der Unterseite jeden Armes wedelten unendlich viele Füße mit kleinen Saugnäpfen erwartungsvoll herum, als könnten sie alles greifen, was ihnen begegnete.
„Wenn sie einen Arm verlieren, wächst er nach“, sagte Sofian. „Das würde ich auch gern können. Wenn mich etwas verletzt, einfach etwas Neues daraus wachsen lassen.“

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Patricia Koelle
Die Füße der Sterne

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Patricia Koelles Geschichten sind eine Lupe, die sichtbar werden lässt, wie groß Kleines sein kann. Es sind Geschichten für das verträumte Ende eines Feierabends, den Beginn eines Wochenendes oder die Bahnfahrt zur Arbeit. Geschichten von Himmel, Meer und Erde. Geschichten zum Lächeln, zum Nachdenken, zum Gesundwerden, zum Verschenken, voller Hoffnung und realistischem Zauber.

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Zitronenluft

Zitronenluft

© Patricia Koelle
 

Trotz der steifen Brise und der Kapuze über ihren Ohren hörte Ella Berger plötzlich ein Getöse, ein Poltern und einen erschrockenen Ausruf. Die Geräusche kamen aus dem Garten, an dem sie gerade vorbeigelaufen war. Sie zögerte, dann kehrte sie um, lehnte sich über die verwitterte Holzpforte und rief: „Hallo? Alles in Ordnung?“
Sicher war sie sich nicht, aber sie glaubte, im Wind einen Hilferuf zu hören.
An diesem Nachmittag verblüffte Ella sich selbst, denn sie hatte während der vergangenen zwei Wochen in der Reha-Klinik alle Gespräche mit Fremden abgelehnt. Sie fühlte sich einfach nicht in der Verfassung dazu. Es kostete sie schon ihre ganze Kraft überhaupt hinauszugehen. Es war, als wäre sie seit der Operation wesentlich älter als ihre knapp sechzig Jahre.
Trotzdem hatte sie sich, als der Regen endlich aufgehört hatte, gegen den Wind den Möwenstieg entlang Richtung Nordspitze der Insel gekämpft. Sie hatte die Kapuze ihres Anoraks ganz eng zuziehen müssen, um einen Schutz über den Ohren zu behalten, denn jede andere Kopfbedeckung machte sich sofort davon. Die ausgefransten Fahnen vor der Klinik knatterten bedrohlich und schlugen ihre Leinen gegen die hohen Masten. Zu ihrer Linken tobten die Wellen an die Dünen. Die unteren Stufen der Holztreppen, die in regelmäßigen Abständen vom Stieg zum Strand hinunterführten, waren vom Wasser bedeckt. Ella hätte das für Hochwasser gehalten; die Einheimischen fanden es für eine Flut an einem Maitag ganz normal.
Zu Ellas Rechten kuschelten sich steile Gärten hinter den Deich. Reetgedeckte Häuser saßen darin wie in einem Nest. Die Gärten waren sandig und karg; es gab nicht viel nahrhafte Erde hier, und die meisten Gartenblumen waren zu zart, um dem Wind zu trotzen. Nur ein paar späte Narzissen kämpften in einigen Kuhlen darum, aufrecht zu bleiben.
Dass es Frühling war, sah man ansonsten nur an der Farbe des Himmels und den zarten Blättern einiger weniger verfrorener Birken, die sich hier und da in windgeschützten Ecken ans Leben klammerten. Es gab sonst kaum Bäume auf der Insel, nur einige in die Dünentäler geduckte Kiefern.
Als sie sich jetzt auf der Suche nach dem Hilferufenden über das fremde Gartentor beugte, konnte sie nichts sehen, denn der Garten fiel steil ab. Kurz entschlossen drückte sie die Klinke. Es war nicht verschlossen. Etwas mühsam stieg sie die Düne hinab und sah sich staunend um. Der Abhang war sandig gewesen wie die gewohnte Insellandschaft, aber hier unten war alles anders. Der Boden bestand aus fruchtbarer schwarzer Erde, es gab ein Stück wirklichen weichen, dichten Rasen und drei runde Beete, die sich in den Schutz der Düne schmiegten und dicht bewachsen waren mit zarten weißen und blauen Glockenblumen, violettem Fingerhut, Purpurglöckchen und anderen Blumen, die Ella hier nie vermutet hätte.
An die Hauswand lehnte sich eine Art Gewächshaus, eher ein Schuppen, und von dort kamen die Geräusche. Die Tür war angelehnt. Ella stapfte in ihren Gummistiefeln hin und klopfte. „Brauchen Sie Hilfe?“
„Jawohl bitte“, kam eine Bassstimme von drinnen.
Ella stieß die Tür auf und fiel fast über ein paar große nackte Füße. Zu den Füßen gehörte ein ziemlich stattlicher Mann, der auf dem Rücken lag, offensichtlich umgeworfen und festgeklemmt von einem Baum in einem blauen Kübel.
„Huch!“, sagte Ella.
„Mein Name ist Herr Rossmonith“, sagte der Mann, als sei „Herr“ sein Vorname, und lachte sie an. Seine Lage schien ihn nicht weiter verlegen zu machen. „Was für ein Glück, dass Sie vorbeikamen. Es ist vielleicht ein bisschen viel verlangt, aber könnten Sie mir wohl helfen? Wenn Sie es schaffen, den Baum wieder aufzurichten, komme ich auch allein wieder auf die Beine.“
„Berger“, stellte sich Ella vor und umfasste den Baum mit beiden Händen nahe der Krone. Der Stamm war ungefähr so dick wie eine Banane. Sehr schwer konnte die Pflanze nicht sein.
„Halt!“, rief Herr Rossmonith. „So bricht er ab! Versuchen Sie bitte, einfach den Kübel aufzurichten.“ Er lächelte entschuldigend. „Wissen Sie, Frau Berger, das ist nämlich mein Lieblingsbaum.“
Ella bückte sich und umklammerte den schweren Steinguttopf. Erst rührte sich nichts, dann rollte er ein wenig zur Seite und stach Herrn Rossmonith einen kleinen Zweig ins Nasenloch.
„Versuchen Sie es noch einmal“, bat er. „Ich bin überzeugt, Sie schaffen das. Wenn nicht, würde ich Sie bitten, auf der Straße Hilfe zu holen.“
Jetzt war Ellas Ehrgeiz geweckt. Sie sammelte alle Kraft und hob den Rand des Topfes an, zog ihn zu sich hin. Für einen Moment drohte er, nun auf sie zu kippen, doch dann zwang sie ihn in eine aufrechte Stellung. Der Baumwipfel rauschte hoch, erzitterte und blieb dann überraschend so stehen, dass Ellas Gesicht mitten darin steckte. „Mmmh“, sagte Ella. Sie rührte sich nicht, sondern schloss nur die Augen. „Was duftet denn so himmlisch?“
„Darum ist dies ja mein Lieblingsbaum“, sagte Herr Rossmonith und kam ächzend auf die Beine. „Ich habe noch zwei davon, aber dies ist der erste und schönste. Es sind Zitronenbäume, und was da so paradiesisch duftet, sind seine Blüten.“
Ella machte die Augen wieder auf. Sie sah ein Büschel porzellanweißer schlichter Blüten mit fünf schmalen Blütenblättern, die sich wie ein Stern um einen Stempel und Staubgefäße öffneten. „Darum riechen sie so wunderbar gelb“, sagte sie und kam sich im gleichen Augenblick albern vor.
Doch Herr Rossmonith war begeistert. „Ja, nicht wahr? Finden Sie auch, dass Gerüche eine Farbe haben? Es gibt zum Beispiel unheimlich viele verschiedene grüne Gerüche. Blaue auch. Übrigens vielen Dank für die Rettung. Aber, aber, was ist denn?“ …

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Patricia Koelle, Geschichten, Kurzgeschichte, Zitronenluft, Zitrone, Duft

Wer nur Frösche küsst, versäumt die Drachen

Wer nur Frösche küsst, versäumt die Drachen

© Patricia Koelle

Patricia Koelle: Wer nur Frösche küsst, versäumt die DrachenCora Sommerlich kniete auf nasser Erde und hatte gerade in eine Brennnessel gefasst, als Ulli Honodel sie fragte, ob sie morgen mit ihm ausgehen würde.

Die Brennnesseln wuchsen in Gräfin zu Feichtenbeiners Edelrosenrabatte und Cora war sich sicher, dass sie so penetrant wiederkamen, weil sie im Charakter wunderbar mit der Gräfin harmonierten. Ulli, Cora und sogar der Chef hatten von biologischem Unkrautvernichter bis hin zu wöchentlichem Jäten und dem Austausch der Erde alles versucht, aber Brennnesseln gediehen hier wesentlich besser als Rosen.

Ob sie Gräfin zu Feichtenbeiner erklären sollte, dass Brennnesseln die Schmetterlinge anlocken und diese den Garten adeln würden? Überhaupt gab es einiges, was sie der Gräfin gern über den Garten erzählen würde. Zum Beispiel dass dem unanständig nackten englischen Rasen ein paar Gänseblümchen hervorragend stehen würden.

Als Ulli Honodels Gummistiefel neben Cora auftauchten, überlegte sie kurz, ob sie ihm ihre Theorie mitteilen sollte, aber seine unerwartete Frage verjagte alle Pflanzenangelegenheiten aus ihrem Kopf und ihre Hand vergaß zu brennen.

Seit sie am Anfang eines milden Herbstes in der Gärtnerei Mogge angefangen hatte, erschienen regelmäßig Kollege Ulli Honodels braune Gummistiefel neben ihrem rechten Ohr, wenn sie gerade an Töpfen oder Beeten kniete. Es folgte ein Räuspern und dann ein höflicher Hinweis.

„Du musst eine Tonscherbe auf das Loch legen, sonst fließt das Wasser nicht ab.“ „Du solltest immer zwei Handbreit Platz zwischen den Setzlingen lassen.“ „Du musst eine Schnur spannen, damit die Kanten gerade werden.“

„Aber geschwungene Linien sehen viel schöner aus“, sagte Cora dann.

„Der Kunde wünscht gerade Linien.“

„Wenn es fertig ist, wird der Kunde sehen, dass es so viel besser aussieht. Er wird es nur noch nicht wissen.“

„Der Kunde wird es nicht sehen, weil wir die Kanten gerade machen werden, wie er es bestellt hat.“ Cora konnte sich nicht erklären, wie das kam, aber die Gummistiefel stapften stets friedlich davon, ohne dass ihr Besitzer jemals ein ungeduldiges Wort auf die Erde fallen ließ – und die Kanten waren am Ende immer gerade.

Ulli war ein netter Kerl …

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Patricia Koelle: Wer nur Frösche küsst, versäumt die Drachen
Patricia Koelle
Wer nur Frösche küsst, versäumt die Drachen
Kindergeschichte für Erwachsene
ASIN B00DN5XVJQ (eBook Amazon Kindle)

Cora Sommerlich verlässt überstürzt die Stadt, weil Kollege Ulli sich versehentlich in sie verliebt hat. Ulli geht gar nicht! Auf ihrer Flucht trifft Cora nicht nur den galanten Frederik Fehringstein, sondern auch auf ein Geheimnis in Großtante Anna-Marias Keller.
Eine Geschichte von Sommer, Liebe und Wundern.
Aber Vorsicht: Wenn Sie zu den Erwachsenen gehören, die vergessen haben, dass es Drachen gibt, lesen Sie auf eigene Gefahr weiter.

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Die Nacht ist ein Klavier

Die Nacht ist ein Klavier

© Patricia Koelle

Patricia Koelle: Die Nacht ist ein Klavier„Geschlossen.“

Nick hockte im Nieselregen an einem der klebrigen Tische vor seinem Stammlokal und starrte auf das Schild an der Tür. Wie wunderbar klar man etwas mit einem einzigen Wort sagen konnte!

Isa hatte sehr viel mehr Wörter benutzt um ihn in die Wüste zu schicken. Die Wüste, in die er ihrer Meinung nach ihr Leben verwandelt hatte. Sie hatte vierundfünfzig Minuten lang geredet. Er fragte sich, wie viele Wörter wohl vierundfünfzig Minuten füllten. Ein schlichtes „Geh!“ hätte es auch getan und zu demselben Ergebnis geführt: dass er seine Zahnbürste, seine Wäsche und seine Bücher einpackte, Isa den Schlüssel zurückgab, den sie ihm vor zwei Jahren an den Weihnachtsbaum gehängt hatte, und ihr mit einer verlegenen Umarmung Glück und einen Mann wünschte, der ohne Schlaf auskam.

Zum Glück hatte er seine Ein-Zimmer-Bude nie ganz aufgegeben, hauptsächlich weil bei Isa keine Lücke für seine Sachen war. In ihrer Wohnung hatte er oft das Gefühl, er müsste schon morgens durch eine Schicht Worte waten wie durch frisch gefallenen Schnee.

Anfangs hatte sie ihn bezaubert mit ihren genauen Beschreibungen, mit den Geschichten, die sie über alles und jeden erzählte, mit der Art wie sie alle Satzzeichen durch ein fröhlich daher hüpfendes Lachen ersetzte. Und mit ihrer Unternehmungslust. Jeden Abend verführte sie ihn, irgendwohin zu gehen, wo etwas los war, wo Menschen und Gespräche und Bewegung den Raum füllten. Es war gut für ihn. Das Leben war lebendig, aufregend und bunt mit Isa.

Doch nachdem er seine Ausbildung zum Pfleger abgeschlossen und einige Monate in der Klinik gearbeitet hatte, wurde ihm klar, dass ihm das nicht genügte. Er wollte mehr wissen. Er wagte ein Medizinstudium. Isa sah das gern, gab reichlich damit an. Aber das Studium wurde stetig aufwändiger, sog die Kraft und die Zeit aus Nicks Tagen. Er musste auch Geld verdienen, arbeitete weiterhin nebenbei als Pfleger, übernahm Nachtschichten, weil er dabei büffeln konnte. Isa musste meist allein ausgehen, und wenn sie Nick hinterher davon erzählte, war er schon nach dem Vorwort eingeschlafen. Wenn Isa beim Erzählen wild gestikulierte war ihm, als ob ihre roten Fingernägel Spuren auf seiner Netzhaut hinterließen wie die Sonne, wenn man zu lange hineingesehen hat. Die Bilder, die sie in die Luft malte, flimmerten noch in seinen Träumen und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Blieb Isa ihm zuliebe zuhause, war sie unglücklich. An Ruhe erstickte sie.

Nick und Isa waren auf Dauer schlichtweg nicht kompatibel.

Und jetzt saß er hier und beneidete ein Türschild um seine klare Einfachheit.

*

Das Schild bewegte sich plötzlich, schwang mit der Tür vor und zurück. Heiner, Nicks alter Schulkamerad, dem das Lokal gehörte, steckte den Kopf heraus und blinzelte in das nasse Dämmerlicht. „Was machst du da? Du weißt doch, dass heute Ruhetag ist! Eigentlich bin ich gar nicht hier. Brauchst wohl’n Schnaps, so wie du aussiehst? Geht aufs Haus!“

„Nee, danke. Mein Dienst fängt gleich an.“

„So schnell schon ein neuer Job? Gratuliere. Wie wär’s dann mit einem Eisbecher? Schokoeis ist gut gegen Liebeskummer.“

„Bin ich ‘n Mädchen?“

„Schokolade wirkt auf beide Geschlechter. Wir geben’s nur nicht zu. Ist dir nicht kalt hier draußen?“

Natürlich war ihm kalt. Immerhin war Anfang Oktober, und ein Sauwetter. Aber Nick wollte einen klaren Kopf bekommen, und außerdem war ihm nach Leiden zumute.

Heiner wischte mit gerümpfter Nase über einen Stuhl, setzte sich widerwillig. „Sie passte nicht zu dir. Vergiss sie!“

Aber ihr Funkeln, mit dem sie sein Leben bestreut hatte wie mit Puderzucker, und die Wärme in ihrer braungebrannten Armbeuge würden ihm fehlen.

„Und? Was ist das für’n neuer Job?“, lenkte Heiner ab.

In der Klinik hatten sie Personal abbauen müssen, und da Nick keine Vollzeitkraft war und außerdem noch nicht lange da, musste er als Erster gehen. Es traf ihn nicht sehr. Auf der Station herrschte ebenso viel Hektik wie bei Isa, ständig war Eile geboten, flogen Befehle hin und her, fiepten und blinkten die Maschinen. Nick hatte zunehmend das Gefühl, dass in ihm eine Zeitbombe tickte. Nicht nur bei Isa gab es zu viele Wörter. Sie tropften auch aus seinen Lehrbüchern, verfolgten ihn zusammen mit Isas Geschichten in seine Träume, rollten in den Vorlesungen wie eine Lawine auf ihn zu. Irgendwo musste es doch Augenblicke der Ruhe geben, in denen er sich an sich selbst erinnern konnte! Darum hatte er keine Zeit verloren, als er die Anzeige in der Morgenzeitung gelesen hatte.

„In einem Seniorenheim. Gleich hier um die Ecke.“

„Hmm. Meinste, ausgerechnet das heitert dich auf?“

„Es heitert mich auf, wenn ich meine Miete bezahlen kann.“ Der Wind ließ ein gelbes Lindenblatt auf den leeren Tisch kreiseln. „Ich muss jetzt los. Meine erste Schicht fängt gleich an.“

„Na, denn.“ Mit einem Schulterzucken stand Heiner auf. „Viel Glück, mein Bester. Vielleicht gibt’s da ja ‘ne hübsche Schwester? Oder zwei?“

„Wenn, sag ich dir Bescheid.“

*

Dass Nick an seinem ersten Tag als Pfleger im Seniorenheim ausgerechnet Nachtschicht hatte, ließ viele Fragen offen. Die Nacht war etwas anderes als ein geregelter Tagesablauf, in den einen die diensthabenden erfahrenen Kollegen einweisen und mit den Bewohnern bekanntmachen konnten. Andererseits gab ihm das die Stille, nach der er sich sehnte, und die ihm erlaubte, sich einzufühlen in einen Ort, an dem sich die Zeit kondensierte.

Er klingelte, nahm die Treppe zwei Stufen auf einmal und trat in die dämmrige Eingangshalle, an die er sich von seinem Vorstellungsgespräch her erinnerte. Das war bei Tag gewesen, Neonlicht hatte den Raum erhellt und alles war voller Geschäftigkeit, Stimmen, Schritte, Gesten. Jetzt, verlassen und dunkel, wirkte alles anders. Sedimente gelebter Jahrzehnte nisteten in den staubigen Gardinen, polierten die Armlehnen der Sessel und klebten an abgegriffenen Buchrücken. Nick sammelte drei leere Kaffeetassen mit kalten Resten ein, die einsam auf einem Tisch standen. Das Licht einer Straßenlaterne fiel durch einen Spalt und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ein verlorenes Taschentuch, das wie ein kleines Gespenst am Knauf einer Schranktür hing. Er pflückte es, faltete den dünnen Stoff säuberlich zusammen.

Nick wollte die Tassen in die Küche bringen und dann Schwester Bärbel im Büro nach Anweisungen fragen, als er ein Geräusch hörte. Ein leises Schnauben, ein Atmen. Oder nur Einbildung?

Er lauschte. Da war was. Von irgendwo unten her. Die grelle Deckenlampe, deren Licht er vorhin verschmäht hatte, schaltete er nun doch ein.

Das Klavier räusperte sich.

Behutsam näherte sich Nick, nahm eine Bewegung wahr. Vorsichtig schob er den Klavierhocker beiseite. Aus dunklen, glänzenden Augen traf ein erstaunter Blick den seinen. Eine kleine, zierliche Frau, eingehüllt in einen langen Schal aus himmelblauem Plüsch, kauerte unter der Tastatur, zwischen die Pedale und das rechte Klavierbein gedrückt. Nick dachte an ein Eichhörnchen, das sich gegen den Winterwind stemmt.

„Hallo“, sagte er.

Die Augen fixierten ihn prüfend, eine kleine Hand griff fester in das Ende des himmelblauen Schals. „Wann kommt Karl?“, fragte eine leise Stimme.

„Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie hervorkommen, können wir Schwester Bärbel fragen. Ich bin Nick.“ Er streckte ihr eine Hand hin.

Nichts rührte sich. Nur dieser blanke Blick hielt seinen fest.

*

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Patricia Koelle: Die Nacht ist ein Klavier
Patricia Koelle
Die Nacht ist ein Klavier
Kurzroman
ISBN 978-3-939937-16-6

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Ein komischer Vogel

Ein komischer Vogel

© Patricia Koelle

Patricia Koelle: FrühlingsgeschichtenEs war Anfang Mai, ein kühler, bedeckter Tag, und der Campingplatz am See noch fast leer. An einer Seite stand ein verfrorener Wohnwagen, in dem sich nichts rührte. Am anderen Ende stellte Adrian Terplanter sorgfältig sein Zelt auf. Er breitete die Plane auf einer trockenen Fläche Heidekraut aus, zog die Teleskopstangen auseinander und schob sie exakt über Kreuz in die Laschen. Sie bogen sich wie von selbst, und schon stand die tarngrüne Kuppel. Früher war das alles komplizierter gewesen.
Ja, früher. In seiner Kinderzeit war es schwierig gewesen, ein Zelt aufzustellen. Damals hatte es noch nicht solche Materialien gegeben. Um sein modernes Zelt herum konnte eine Flut steigen, es blieb trotzdem dicht. Wenn man aber früher während eines Regenschauers das Dach von innen berührte, regnete es sofort durch.
Im Gegensatz dazu war jedoch das Leben einfach gewesen.
Heute stellte er das Zelt mit wenigen Handgriffen auf, dafür schien sein Leben unendlich kompliziert. Es regnete sozusagen überall durch. Sein Dasein bestand nur noch aus einem Leck neben dem anderen, und er wagte kaum, sich zu rühren.
Darum hatte er beschlossen, es zu beenden.
Er wunderte sich über sich selbst, warum er sich noch die Mühe machte, das Zelt so ordentlich aufzustellen. Das Moskitonetz am Eingang erschien ihm lächerlich. Mücken waren sein geringstes Problem. Wenn man tot ist, juckt es nicht.
Aber er war es gewohnt, grundsätzlich alles so ordentlich und richtig zu machen, wie es ihm möglich war.
Gereicht hatte es nicht. Seine Familie gab es schon lange nicht mehr. Den plötzlichen Herztod seiner Frau hatte er wohl nicht verschuldet, aber dass seine Tochter sich aus Kanada so selten meldete, dass sie ganz offensichtlich kein Interesse an ihm hatte, musste doch zu einem großen Teil an ihm liegen. Er hatte sie ja erzogen.
Mit ihnen war seine Freude an der Tischlereiwerkstatt verloren gegangen, als wäre sie ausgelöscht. Er hielt seine Werkzeuge ratlos in der Hand, als hätte er nie etwas damit anzufangen gewusst. Dabei waren Terplanters Truhen und Schreibpulte nach alten Vorbildern gefragt gewesen. Er selbst hatte in die Pulte und Sekretäre die beliebten Geheimfächer eingebaut, eines findiger als das andere. Der Betrieb lief gut, er konnte Leute einstellen. Doch nun hatte er alles an einen entfernten Cousin verkauft, bei dem die Werkstatt sicher in guten Händen war. Niemand musste entlassen werden, und Adrian hatte auch kein schlechtes Geschäft gemacht. Aber er fühlte sich, als hätte er versagt.
Das kleine Vermögen würde nun seine ferne Tochter erben, die nie Fragen an ihn hatte.
Er wollte nicht mehr denken. Gedanken hatte er sich genug gemacht. Sie hatten sich in endlosen Spiralen gedreht und in ewige Tage und Nächte gebohrt, bis ihm schwindelig war, ohne dass es etwas bewirkt hatte.
Ein Mann ging mit entschiedenen Schritten an ihm vorüber in Richtung des Wohnwagens, eine Zeitung unter dem Arm und ein Kuchenpaket in der Hand. „Guten Tag“, grüßte er fröhlich. „Eine herrliche Ruhe hier, was? In ein paar Wochen ist das ganz anders. Sie haben sich eine gute Zeit ausgesucht.“
„Guten Tag“, sagte Adrian höflich und distanziert.
Ja, die Zeit war richtig. Das Gefühl hatte er auch. Das Gleiche galt für den Ort, den er nach einer langen Autofahrt gefunden hatte. Etwas hatte ihn hierher gezogen.
Der tiefe See mit dem torfig schwarzen Wasser, der in der stillen, kargen Heidelandschaft den Himmel spiegelte, war genau, was er gesucht hatte.
Er goss sich Kaffee aus seiner Thermoskanne ein, setzte sich mit dem dampfenden Becher auf einen Stein am Ufer. Die warme Flüssigkeit tat ihm wohl. Es waren die kleinen, einfachen Dinge, die plötzlich eine große Bedeutung bekamen und einen Anflug von Glück in ihm weckten. Alles andere war unwichtig geworden. Er gönnte sich sogar ein zerdrücktes Karamellbonbon, das er in seiner Hosentasche gefunden hatte. Um seine Zähne brauchte er sich ja nun keine Gedanken mehr zu machen.
Ungläubig stellte er fest, dass er sich frei fühlte. Er konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal so leicht in ihm gewesen war. Fast als wäre er schon nicht mehr da.
Ein Fisch sprang nach einer Libelle, und Adrian beobachtete die Kreise, die sich an der Stelle ausbreiteten. Zu dem einen großen Kreis gesellten sich viele kleine, denn die Luft war schon den ganzen Tag regenschwer, und nun begann es zu nieseln. Adrian blieb sitzen. Was machte es, ob er nass wurde. Wenn er sich rührte, schlug er damit vielleicht den unerwarteten Frieden in die Flucht.
Er kannte sonst nur noch zwei Zustände. Der eine war die tonlose Leere, die sich in ihm ausbreitete wie Nebel, jede Empfindung auslöschte und nirgendwo aufhörte. Dann spürte er nichts mehr in sich außer einem fernen Erschrecken über sein Fremdsein. Wer ihm an solchen Tagen begegnete und in die Augen sah, dem lief ein Schauer über den Rücken und der ging rasch weiter, als könne etwas ansteckend wirken.
Dem Mann mit dem Kuchenpaket war es ähnlich ergangen, obwohl dies einer von Adrians besseren Tagen war. „Das scheint ein komischer Kauz zu sein“, sagte Ralf Hoffmann zu seiner Frau, als sie im Wohnwagen Mandelhörnchen kauten, um sich über den Regentag hinwegzutrösten. „Er sah unglaublich einsam aus. Glaubst du, wir sollten ihn einladen?“
„Der ist doch erst seit zwei Stunden hier. Lass ihn erst mal zur Ruhe kommen“, sagte Jela.
„Okay, vielleicht spreche ich ihn morgen beim Frühstück an“, sagte Ralf, den etwas an dem neuen Nachbarn unruhig machte. „Lass uns Karten spielen, bis der Regen aufhört. Könnte ein schöner Sonnenuntergang werden.“ Er kannte sich mit dem Wetter aus, denn sie kamen seit Jahren her. Sie führten ein fröhliches und volles Leben und suchten hier gelegentlich eine Atempause, um Zeit füreinander zu haben.
Tatsächlich verzog sich der Regen später nach Osten und dahinter flossen glühende Farben in die kühlklare Luft. Schwarze Wolkenränder leuchteten feurig orange und schwefelgelb. Halbverwehte Kondensstreifen von Flugzeugen schrieben silberne Zeilen in den Himmel.
Unglücklicherweise verscheuchten die kräftigen Farben die Ruhe aus Adrian, der immer noch auf dem Stein saß und immer noch keinen Hunger hatte. Ihr Brennen versetzte ihn in seinen zweiten gefürchteten Zustand, weckte die entsetzliche bohrende Traurigkeit, die aus einer Tiefe in ihm aufstieg, als käme sie von weit unter seinen Füßen, irgendwo aus dem Erdkern. Sie war so schwer, dass er sie nicht tragen konnte. Wie unerträgliche Zahnschmerzen zog sie sich durch jede Faser seines Körpers.
Er tastete nach der unangebrochenen Packung Schlaftabletten in seiner Tasche. Morgen, dachte er, morgen würde er endlich seinen Frieden finden.
Heute war er zu müde. Zu müde um sich umzubringen. Plötzlich lächelte er über sich selbst.
Er ging durch die kreisenden Mückenschwärme zum Zelt, hoffte, dass der Morgen rasch käme und der Schlaf ihm bis dahin eine Atempause gönnte.
Auch wenn es irgendwie sinnlos erschien, ging er sich im Waschraum die Zähne putzen. Dabei begegnete er erneut Ralf Hoffmann. „Schlafen Sie gut“, sagte der freundlich und verhielt im Schritt, als er Adrians Blick begegnete.
„Danke, Sie auch“, sagte Adrian.
Ralf beeilte sich, zurück zu Jela zu kommen. „Halt mich mal kurz fest“, sagte er und nahm sie in den Arm. „Dieser Bursche macht mir zu schaffen. Ich habe noch nie einen so traurigen Blick gesehen. Es ist, als zöge ihn etwas in die Tiefe. Ich hatte das Bedürfnis, ihm auf die Schulter zu klopfen und zu sagen ‘Das wird schon, alter Junge’. Aber macht man das mit einem Fremden? Wie alt schätzt du ihn eigentlich?“

*

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Patricia Koelle: Frühlingsgeschichten
Patricia Koelle
Frühlingsgeschichten
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Treibgut

Treibgut

© Patricia Koelle

Patricia Koelle: FrühlingsgeschichtenJens Gremmühlen stand im Unterhemd auf seinem Balkon und sah den neuen Lieferwagen des Apothekers vorbeischwimmen, für einen Moment am untersten Ast einer Linde hängen bleiben und sanft schaukelnd hinter dem Gasthof verschwinden. Die Linde entfaltete gerade kleine, fröhlich grüne Fächer.
Eigentlich hatte eine Schutzwand gebaut werden sollen, nach der großen Flut vor vier Jahren, die den Keller und das Erdgeschoss zerstört hatte.
Vier Generationen lang hatte die Metzgerei Gremmühlen ihre Kunden friedlich mit Schinken, Leberpastete und einem freundlichen Wort versorgt.
Vor vier Jahren trieben die Leberpastete und die Sicherheit zum Fenster hinaus.
Doch der Flutwelle folgte eine der Hilfsbereitschaft. Sie hatten alles wieder aufgebaut. Nur die Schutzwand gab es immer noch nicht. Eine Jahrhundertflut heißt so, weil sie nur einmal im Jahrhundert kommt, hatten einige gemeint, und die Wand wäre so hässlich, dass sie wie ein Riss durch das Leben gehen würde.
Die Tage warteten nicht darauf, dass eine Entscheidung fiel. Sie vergingen trotzdem, und in der Metzgerei Gremmühlen brummten inzwischen neue, modernere Maschinen. Die Wände standen stolz in frischem Sonnengelb. Es kamen mehr Kunden als zuvor. Jens’ Ältester, Willi, machte eine Lehre bei einem Kollegen. Jens hätte ihn nie dazu gedrängt, aber Willi schien die Familientradition tatsächlich gern fortführen zu wollen. Und sie hatten begonnen, den Kredit abzuzahlen.
Doch in diesem Winter hatte es in den Bergen nicht mehr aufgehört zu schneien, bis Dächer unter der Last zusammenbrachen, und das ganze Land war in strengem Frost erstarrt, der einfach nicht nachlassen wollte. Als dann doch der verspätete Frühling eilig den Schnee wärmte und das Wasser sich auf den Weg machte, lief es auf einmal wieder gurgelnd bei Jens Gremmühlen in den Laden und klatschte spöttische Wellen gegen die Wände. Es reichte bis zu den Blumentöpfen auf der Fensterbank. Das Haus roch scharf nach nassem Holz und feuchtem Kalk. Unregelmäßige dunkle Linien zogen sich wie ein Fries rundherum, als hätte jemand Ungeschicktes ein Bergpanorama zeichnen wollen.
Die meisten Maschinen hatten sie retten können, aber nicht alle. Das Portrait von Urgroßvater Cord Gremmühlen lehnte vorübergehend auf dem Dachboden an einem alten Schlitten und blickte sorgenvoll.
Sophie und die Mädchen waren bei der Oma, wo es trocken war. Er hatte sie rechtzeitig fortgeschickt, damit sie das Elend nicht noch einmal mit ansehen mussten.
Aber nun war er allein mit der Zerstörung und der Stille.
Geträumt hatte er, wie sie Sandsäcke füllten. Er schaufelte und schaufelte, ohne zu wissen, was er da einfüllte, bis Sophie sagte: „Hör auf, Jens, die Hoffnung ist alle.“
Er stand mit der Kaffeetasse in der Hand im Morgenlicht und sah, wie die Zukunft davonfloss. Als Kind hatte er sich vor dem Abfluss in der Badewanne gefürchtet. Der schlürfende Wirbel, der alles nach unten zog, füllte ihn mit Erschrecken, und er achtete genau darauf, dass sein großer Zeh der hungrigen Öffnung nicht zu nahe kam. Lieber stieg er erst aus der Wanne und zog dann den Stöpsel.
Sein augenblickliches Entsetzen war nicht kleiner.
Sie würden es sicher kein zweites Mal schaffen.
Rechtzeitig ausgestiegen war er wohl auch nicht.
Der Kaffee schmeckte wie Badewasser. Er kippte ihn über das Balkongeländer. Da sah er etwas um die Ecke Marktstraße/Heinestraße biegen.
Es war ein Papierschiffchen. Ein ganz normales Papierschiffchen wie es Kinder eben falten, unpraktisch und vergänglich wie ein Traum. Es war durchweicht am Boden und lehnte sich in den Frühlingswind, doch es schwamm sicher und leicht. Im Bug leuchtete eine gelbe Stiefmütterchenblüte.
Jens lehnte sich über die Balkonbrüstung. Das Schiffchen fuhr direkt unter ihm vorbei, als wüsste es genau, wo es hinwollte. Die Brise steuerte es zwischen den blühenden Zweigspitzen der Forsythie hindurch, die an der Hausecke wuchs, dann die Heinestraße entlang und auf die silberne Wasserfläche hinaus, unter der sich die Kuhweide des Bauern Großklaus verbarg.
Da lag der Bug immer noch nicht tiefer, und das Segel blieb aufrecht.
Jens sah ihm nachdenklich hinterher.
Vielleicht würden sie es doch schaffen. Willi konnte schon gut mit anpacken. Dem Leiter der Bank schmeckte die Gremmühlensche Leberpastete besonders gut. Die meisten Maschinen hatten sie ja nach oben tragen können. Vielleicht zahlte die Versicherung doch noch einmal ein wenig. Und die Wände streichen, na ja, wie oft hatte er das schon gemacht!
Und auch wenn das Dorf untergegangen wirkte: der Himmel reichte weit und war so blau wie Sophies Augen und die hellgrünen Blätter nach dem unerträglich langen Winter endlich auf dem Weg.
Jens Gremmühlen ging ins Haus. Als er eine Weile später wieder auftauchte, trug er eine frische Tasse Kaffee in der einen und einen Stapel bunten Papiers in der anderen. Er hoffte, Klein-Moni würde nichts dagegen haben, dass er das Bastelpapier aus ihrem Schreibtisch genommen hatte.
Jens nahm einen tiefen Schluck und begann, das Papier zu falten. Seine Hände waren eigentlich zu groß und zu ungeschickt für sein Vorhaben, und er brauchte lange. Doch wenn er von etwas genug hatte, bis das Wasser ablief, so war es Zeit. Zeit, in der Angst aufzulaufen drohte, gegen die seine breiten Schultern ihm nicht halfen. Aber seine Hände erinnerten sich und gaben nicht auf.
Zur Mittagszeit beugte er sich mehrfach über das Balkongeländer, und eine Menge bunter, aufrechter Papierschiffchen machte sich auf den Weg durch das Dorf, die Hauptstraße hinauf, denn der Wind hatte gedreht. Sie trugen die Blüten von roten Tausendschönchen aus Jens’ Balkonkasten im Bug und kleine Probepackungen Gremmühlenscher Leberpastete.
Es schadete ja nicht, den Menschen zu zeigen, dass dieser Betrieb nicht untergegangen war, sondern sich schüttelte wie ein nasser Hund und erneut auf den Weg in die Zukunft machte.
Und dass gelegentlich etwas Leichtes vorübertreibt, das Gewicht hat.

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Liebe im Teeglas

Liebe im Teeglas

© Patricia Koelle

Patricia Koelle: Viktorias blauer GartenDer handgemachte Teebeutel lag in Majas Briefkasten zwischen einer Mahnung des Klempners und einer Werbung für Feuerlöscher. Er war sorgfältig in Cellophan und Seidenpapier gewickelt. „Heller Nachmittag“, stand darauf, in einer ordentlichen, verschnörkelten Handschrift. Als sie daran schnupperte, schoss ihr trotz des Februarmatsches, der an ihren Stiefeln klebte, das Bild eines sommerblauen Himmels voller Schwalben durch den Kopf.
Also hatte Franziska wieder Dienst gehabt. Franziska Blaumeiser, die seit einer kleinen Ewigkeit im Dorf nicht nur die Post austrug sondern auch Teebeutel. Immer wieder kam es vor, dass jemand einen solchen zwischen seinen Briefen fand. Franziska hatte stets Augen und Ohren offen und wusste, wann jemand Trost brauchte oder etwas, das ihn besser schlafen ließ. Wer ihr zu mager vorkam, bekam appetitanregenden Schafgarbentee und wer morgens verschlafen wirkte einen kräftigen Schwarzen. Maja kannte sie nicht näher und hatte sie noch nie besucht, aber man munkelte, Franziska Blaumeiser betreibe eine wahre Hexenküche. Manches Mal wurde gesehen, wie sie geheimnisvolle dicke Briefe an sich selbst lieferte, wohl voll der Kräuter, die zu exotisch waren, um in ihrem eigenen Garten zu gedeihen, den sie hinter einer dichten Hecke versteckte und aus dem an warmen Abenden eigenwillige Düfte aufsteigen, so dicht als könne man sie berühren.
Maja aber konnte heute jeden Trost gebrauchen und schob alle Bedenken beiseite. Sie lauschte dem ansteigenden Schwatzen der Wasserblasen im Bauch ihres altmodischen Teekessels, während sie aus dem Fenster starrte. Sie war sich sicher, die schriftliche Prüfung heute Morgen völlig verhauen zu haben. Dabei hatte sie gründlich gebüffelt. Der Grund für ihre fehlende Konzentration hatte freundliche Augen und saß am Tisch rechts von ihr. Sie kannte ihn schon flüchtig, freundschaftlich eben, aber noch nie war ihr aufgefallen, dass sich diese Lachfalten um sein linkes Ohrläppchen herum bildeten, wenn er lächelte. Das tat er beim Schreiben wiederholt, ohne es zu bemerken. Es irritierte sie zunächst, dann ließ es sie nicht mehr los. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der mit den Ohren lachte.
Ganz zum Schluss, als sie die Arbeiten abgegeben hatten, strahlte er ihr direkt in die Augen und sie sah, dass sich diese Fältchen natürlich auch am rechten Ohr bildeten. Wie hätte sie da nein sagen können, als er sie mit gleichzeitig schüchternem und erwartungsvoll-verschmitztem Blick zum Eis einlud? Leider wurde er diesen verflixten Lachfalten auch noch in jeder Hinsicht gerecht. Wäre da nicht die lange träge Geschichte mit Jan gewesen und danach die kurze, übereilte mit Frido, hätte sie keine Bedenken gehabt, ihn morgen wiederzusehen. Er hatte ihr ein Picknick versprochen, mitten im Februar, und sie war nicht nur zum Platzen neugierig, sondern sehnte sich schon jetzt wieder nach seinen Ohren.
Maja seufzte und ließ den Teebeutel im Glas zappeln. Das Wasser nahm eine sonnengoldene Farbe an, in der ein leichtes grünes Schimmern umherzuhuschen schien wie eilige Libellen. Sie nahm das heiße Getränk mit ins Wohnzimmer zu ihrem Kummersessel, legte die Füße auf die Fensterbank und hätte für einen Augenblick schwören können, dass die Dampfwölkchen, die aus dem Glas aufstiegen, mit kleinen Flügeln schlugen wie die Schwalben, die vorhin durch ihre Gedanken gehuscht waren. Der Tee schmeckte nach weiten Wiesen, Stille und Gänseblümchen. Mit jedem Schluck fühlte sie sich leichter. Jan und Frido rückten vorerst in den Hintergrund ihrer Befürchtungen, als seien sie mit dem Dampf verweht.
Als Maja ausgetrunken hatte, schlüpfte sie in ihre Jacke und verließ das Haus. In ihrem Inneren kribbelte eine heitere Wärme und aus irgendeinem Grunde war ihr nach einem langen Spaziergang. Es wunderte sie nicht wirklich, dass sie sich gleichzeitig mit der Dämmerung vor dem erstaunlich modernen Haus wiederfand, in dem Franziska Blaumeiser wohnte. Ein windschiefes Giebelhäuschen hätte viel besser gepasst als der schuhkartonartige Bungalow, doch Maja klingelte trotzdem. Auch Franziska Blaumeiser selbst hatte äußerlich nichts mit einem Kräuterweiblein gemeinsam. Schlank und aufrecht stand sie in der Tür, mit kurzen weißen Haaren und gebügeltem taubenblauen Hosenanzug. „Ich wollte mich für den Tee bedanken“, sagte Maja. „Der kam heute gerade richtig.“
„Kommen Sie doch herein. Wollen Sie mir mehr erzählen?“

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Die Einladung

Die Einladung

© Patricia Koelle

An diesem feuchten Junimorgen ging ich barfuß durch den Garten, damit meine Socken und guten Sandalen nicht nass wurden. Ich kann nasse Socken nicht leiden. Doch sofort schämte ich mich, dass ich mir auch an diesem Tag, der doch so unbedingt Elke-Elisa gehörte, Sorgen um meine Socken machte.

Sie hatte die Einladungen eigenhändig unterschrieben und adressiert, mit ihrer klaren Schrift, die ich täglich auf Etiketten, Heftern und Umschlägen im Büro sah. Das war schon lange vor dem Ereignis gewesen; nur das Datum war später hineingestempelt worden, nachdem es feststand. Die Karten waren aus edlem Karton mit einem geprägten Rand. Bestimmt hatte Elke-Elisa noch nie soviel Aufwand um sich betrieben. Sie stand niemals im Mittelpunkt und erwartete auch keine Aufmerksamkeit, wenngleich sie eines der Rädchen war, ohne die das Getriebe der Firma nicht funktioniert hätte. In gewisser Weise war sie sogar die Achse, die alles trug. Doch das Einzige, das sie je an Beachtung einforderte, war, dass man sie nicht einfach Elke nannte. Sie bestand auf Elke-Elisa. Sie wolle nicht halbiert werden, sagte sie einmal.

Sie war erst knapp über fünfzig, aber ihre Haare waren grau, seit ich mich erinnern kann. Sie trug sie kurz und praktisch. Ihr Gesicht darunter wirkte überraschend jung. An ihrer Kleidung fiel nichts ins Auge; ich glaube, es waren grundsätzlich Hosen, Hosen mit Bügelfalten. Was wir aber heute tragen sollten, hatte sie festgelegt. Das heißt, es war eine höfliche Bitte, aber keiner von uns wagte, dieser Bitte keine Folge zu leisten. Kleider sollten es sein, bunte Sommerkleider, nicht feierlich, sondern heiter wie der Blumenschmuck, den sie, ebenso wie die Musik, mit Eifer ausgesucht hatte und in dem Sonnenblumen und blaue und rosa Lupinen eine Rolle spielten. Von den Männern verlangte sie, falls überhaupt einer kam, eine Blume im Knopfloch eines hellen Anzugs.

Es würde das erste Ereignis sein, das ihr allein galt, und sie überließ nichts dem Zufall. Auch über das Menü machte sie sich lange Gedanken. Mir gegenüber erzählte sie einmal etwas von Krabben-Gurkensuppe davor und Sanddorn-Parfait danach, den Hauptgang aber ließ sie in geheimnisvollem Dunkel. Ich wandte damals ein, ob das nicht alles etwas übertrieben sei, zumal sie dafür das teuerste Restaurant im Ort ausgewählt hatte, mit Terrasse und Seeblick. Nein, sagte sie, dieses eine Mal soll es groß sein und hell.

Ich war flüchtig erstaunt gewesen, dass auch Elke-Elisa, die jeden Tag länger als acht Stunden in ihrem engen Büro mit den schmalen Fenstern am Schreibtisch saß, die Fehler ihrer Vorgesetzten und Kollegen mit tiefer Geduld ausbügelte und Kaffee und aufmunternde Worte für jeden bereithielt wie Heftpflaster, ohne selbst jemals über Kopfschmerzen oder die Stromrechnung zu jammern, einmal etwas „groß“ haben wollte.

Dann vergaß ich das Gespräch wieder.

Und jetzt stand ich im morgenneuen Garten und versuchte, einen Blumenstrauß zusammenzustellen, der zu ihr und ihrem großen Tag passen würde. Das war schwerer, als ich dachte. Es schien fast ein Ding der Unmöglichkeit, und dabei war es mir auf einmal so wichtig, dass meine Hand zitterte, als ich die Schere an den Stängel einer frühen Dahlie in den Farben eines Sonnenuntergangs setzte. Vielleicht war es auch nur, weil ich in meinem leichten Kleid fröstelte. Seltsam, ich hatte wohl etwas wie Lampenfieber, so sehr wollte ich, dass wenigstens an diesem Tag alles wunschgemäß schön wurde für Elke-Elisa. Zu meinem Erschrecken kannte ich noch nicht einmal ihre Lieblingsfarbe, dabei hatte ich an ungefähr zweihundertzehn Tagen des Jahres in ihrem Büro ihren Kaffee getrunken. Fragen konnte ich sie jetzt nicht mehr, und auch sonst niemanden; in einer Viertelstunde musste ich los. Undenkbar, heute zu spät zu kommen.

Neben den Sonnenuntergangsdahlien entschloss ich mich für mehrere von den strahlend weißen, sternförmigen. Hell wollte Elke-Elisa es haben. Hell. Dafür passten sie, und dazwischen steckte ich himmelblaue Glockenblumen. Von der Laube hing eine lange Ranke der Schwarzäugigen Susanne herab, voll honiggelber Blüten, wie verschmitzte Augenaufschläge, und nach kurzem Zögern schnitt ich sie ab und wickelte sie wie ein Band um die Stängel. Mein Strauß war fertig, und ich machte mich auf den Weg.

Nie hätte ich damit gerechnet, dass so viele Leute kommen würden. Elke-Elisa musste noch mehr Kaffee gekocht, Akten geordnet und Freundlichkeit wie Konfetti im Alltag verteilt haben, als ich ahnte.

Es waren durchaus Männer darunter, und alle trugen helle Anzüge und eine Blume im Knopfloch. Bei vielen war es eine gelbe Rose oder sogar eine rote.

Auch drinnen war es hell, strahlend hell, wie Elke-Elisa es wollte. Durch die runden Fenster fiel schräg und warm die Junisonne und zielte genau auf Elke-Elisa.

Ich folgte der sommerlichen Menschenmenge, ging leise die drei Stufen hinauf, fügte meinen Strauß den anderen hinzu, die schon zu Elke-Elisas Füßen lagen und schob mich dann still auf eine der strengen Bänke.

Auch den Sarg hatte sie sich selbst ausgesucht, schon bald nachdem sie von ihrer Krankheit wusste. Er war weiß, mit einem Goldrand und goldenen Griffen. Auf der glänzenden Oberfläche spiegelte sich das Licht. Dadurch wirkte er seltsam leicht, so als stünde Elke-Elisa nicht nur drei Stufen über uns auf dem Podest, sondern sei schon halb auf dem Weg nach ganz oben.

Der Pfarrer, der mit dem offenem Heft in der Hand bereitstand, aus dem er Elke-Elisas selbstverfasste Rede vorlesen sollte, wirkte daneben klein und versteckt hinter seinem Pult, als sei er nur der Souffleur, der Elke-Elisa bei ihrem einzigen großen Auftritt behilflich sein würde, sollten ihr die Worte fehlen.

Doch noch spielte die Musik, während wir alle zu Elke-Elisa aufsahen. Es war helle Musik, hell, wie Elke-Elisa es sich gewünscht hatte. Und je länger ich auf den leuchtendweißen Sarg mit den Blumen starrte, desto weniger hatte ich das Gefühl, dass ihr irgendetwas fehlte.

Sollte aber jemand im Jenseits es wagen, sie „Elke“ zu nennen, war ich mir sicher, sie würde ihn höflich darauf hinweisen, dass sie nicht halbiert zu werden wünschte.

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Kurzgeschichte, Patricia Koelle, Einladung, Garten, Blumenstrauß, Lupinen

Weghmanns Wort-Gefecht

Weghmanns Wort-Gefecht

© Patricia Koelle

Fritjof Weghmann spürte ein wühlendes Kratzen und ein Gewicht im Magen, als hätte er seine Haarbürste verschluckt.
Weghmann hatte störrisches Haar, in dem silberne Strähnen spukten. Er benutzte eine unerbittlich drahtige Bürste, um es zu ordnen, doch kaum machte er sich auf den Weg in den Tag, sträubte es sich wieder, ebenso wie alles in ihm gegen sein Vorhaben.
Seine Finger zitterten, als wären sie belustigt über ihn, sein Herzschlag war auf einem Hürdenlauf unterwegs, in sein Hirn drehte sich ein höhnischer Wirbelsturm. Mit einem Ruck sprang er vom Schreibtisch auf, einem erschauernden alten Sekretär mit unzähligen Schubladen voll überraschender Spuren. Er könnte sie mal wieder aufräumen, am besten jetzt gleich, dachte er und verwarf den Gedanken sofort wieder. „Disziplin!“ mahnte er sich.
Doch wie lange hatte er Tonio nicht mehr angerufen, seinen besten Freund. Schon seit Monaten hatten sie sich nicht gesprochen. Warum ihn sein diesbezügliches schlechtes Gewissen gerade an diesem Dienstagnachmittag um vierzehn Uhr dreißig so dringlich überkam, fragte er sich nicht. Er wusste es ja.
Tonio beantwortete den Anruf auch noch. „Natürlich geht’s mir gut, alte Socke“, schrie er fröhlich in den Hörer. Tonio schrie immer, es bekümmerte ihn einfach nie etwas, so dass er alle Energie auf seine Gegenüber richten konnte. „Aber entschuldige, habe Patienten. Melde mich demnächst!“ Natürlich durfte er Tonio nicht wegen einer Belanglosigkeit von den Kranken fernhalten, dachte Weghmann. Aber er hätte im Moment einen Geburtshelfer gut gebrauchen können. Tonio war Allgemeinmediziner. Warum sollte er nicht der drängelnden unfertigen Form der jungen Geschichte in seinem Kopf den entscheidenden Stoß ins Leben geben können? Nun musste er es selbst tun, und es erschien ihm schier unmöglich.
Er setzte sich wieder, überlegte, ob er das Hintergrundbild auf seinem Monitor ändern sollte. Es war noch Sommer darauf, er könnte ein Herbstbild heraussuchen, es war schon September. Gegen die Furcht würde das nicht helfen.
Weghmann öffnete ein neues Dokument und tippte hastig einen Arbeitstitel auf die leere Seite. Das einschüchternde Weiß darauf wich davon nicht zurück. Er stellte den Hintergrund auf ein sanftes Gelb ein. Das machte ihn noch nervöser. Die stachlige Angst blieb und fröstelte in ihm herum. Er rief das Weiß zurück und speicherte, sprang erneut auf. Da war noch das Stück Schokoladenkuchen im Kühlschrank, von Onkel Dieters Besuch gestern übrig. Aber er nahm den Geschmack nicht wahr, denn er hatte Worte auf der Zunge.
Grau erschütterte ihn jedoch seine eigene Arroganz. Wie konnte er sich anmaßen, auch nur einen Winkel, einen winzigen Anteil dieser ungeheuren Welt, dieses wahnsinnigen wundersamen menschlichen Geschehens glaubhaft und der Wunder angemessen in lebendige Worte fassen zu wollen? Und das auch noch dermaßen, dass fremde Andere, die doch alle ein ebenso volles Leben führten, es lesen oder hören wollten?
Der Monitor wartete streng auf seine Rückkehr. Weghmann setzte sich, stopfte das Kissen in seinem Rücken zurecht, zog am Ärmel seines Hemdes. Eigentlich müsste er bügeln, er wollte am Freitag mit Anja ins Theater. Dann zog er das Hemd aus; er schwitzte fürchterlich, trotz des ersten Herbstwinds, der die Gardinen durchs angekippte Fenster blies. Wild sog er Luft ein und tippte zwei Sätze wie Geschosse, irgendwelche Worte, die ohne Sinn daherkamen, nur um endlich den Stau in seinen Fingern zu lösen und etwas ins Weiß fließen zu lassen. Weiß war in alten Zeiten die Farbe des Todes gewesen. Er wollte aber morgen nicht um diese Geschichte in ihm trauern müssen, die leuchtende, hungrige Farben versprach, wenn er nur den Mut fände, sie heute festzuhalten. Wenn er das jetzt versäumte, ginge etwas von ihm endgültig verloren. Nie würde er herausfinden, ob etwas darin war.
Da er so tief und überhastet eingeatmet hatte, verschluckte er sich, lief in die Küche, verwarf den Gedanken, Kaffee zu kochen und beschränkte sich auf ein Glas Wasser in der Hoffnung, dessen Klarheit würde sich auf seine Gedanken übertragen.
Dass auch nichts gegen diesen ewigen Schrecken half, der ihm so vertraut war wie die Löcher in seinen Socken! Dass die Beklemmung ihn jedes Mal wieder grimmig schütteln musste, obwohl doch sein Publikum unsichtbar war, jedenfalls vorerst. Oder war es gerade dieses Fehlen der Gesichter, das ihn beunruhigte? Er konnte nicht sehen, ob sie verächtlich blicken würden, gelangweilt oder amüsiert, er konnte nicht ahnen, ob es ihm glücken konnte, sie mit den leidenschaftlichen Sätzen zu berühren, die er behutsam nach ihnen ausstreckte. Und doch waren sie beängstigend nahe Schatten um ihn.
Die größte Angst hatte er vor sich selbst. Zuallererst war er seine eigene Prüfung. Wie würde sich das, was aus ihm den Weg fand, im Licht ausnehmen? In seinen Augen? Ein paar ungenaue, schlampige Ausdrücke an wichtigen Punkten und wie leicht konnte das, was ihm wundersam erschienen war, in Staub und Fratzen zerfallen, sich in entsetzendes Gegenteil verkehren oder, schlimmer noch, als trivial oder lächerlich zu erkennen geben.
Doch da war auch die Möglichkeit, sich bei dem Anblick höher wiederzufinden als noch eine Stunde zuvor. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei welchen sich selbst überraschte und eine helle Hoffnung, jemanden erreichen zu können, im Geschaffenen entdeckte, die alles zum Schwingen brachte.
Das Telefon zerriss den Nachmittag. Weghmann wollte erneut aufspringen, hielt dann inne, rührte sich nicht. In ihm stieg Wut. Alles wollte ihn daran hindern, zu schreiben. Warum ließ er sich das gefallen? Eine Stunde aus einem Kindheitssommer blitzte in ihm auf. Er hatte beim Topfschlagen wieder einmal den Topf ein halbes Leben lang nicht gefunden, war in würdeloser Haltung durch das Dickicht aus dem Gelächter der anderen Kinder blind über die Wiese geirrt. Doch er hatte nicht aufgegeben. Als er dann endlich schmerzhaft mit dem Knie dagegen stieß, hieb er in solcher Wut mit dem Kochlöffel darauf ein, dass der Löffel wie in einem blechernen Gewitter zersplitterte. Es war der lange Kochlöffel gewesen, mit dem ihn sein Vater nach Missetaten zu verprügeln pflegte.
Die Entschlossenheit von damals war plötzlich da, versprach die aufsteigende Flut der Worte durch den engen Kanal seiner Hand zu zwingen. Gleich. Bald.
Das Telefonklingeln bohrte noch eine Weile, verhallte dann. Weghmann pustete Staub aus der Tastatur. Die E-Taste war blank gewetzt und der Buchstabe darauf verschwunden, so oft hatte sein Finger die Taste berührt. Das bedeutete, dass er schon viele Texte geschrieben haben musste, ohne Schaden genommen zu haben. Es tröstete ihn ein wenig. Warum sollten seine Hände gerade heute scheuen wie vor einem Schlag. Er schloss ein stummes Räuspern lang die Augen, spürte der Form der Geschichte nach, die er warm in sich fühlen konnte, suchte nach dem eigenwilligen Zipfel des Anfangs, begann, ihn aufs Papier zu legen. Nach drei Sätzen durchpflügte er sie misstrauisch, änderte zwei davon gründlich. Er stocherte in den Worten wie als Fünfjähriger im Haferbrei und machte schließlich eine Sicherheitskopie …

Hier erfahren Sie, wie die Geschichte weitergeht → Patricia Koelle: Weghmanns Wort-Gefecht

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Oma Brigges Torwart

Oma Brigges Torwart

© Patricia Koelle

WM. Endspiel. Und Deutschland war dabei! Alle waren dabei. Auch die, die sich sonst mit keinem Zipfel ihres Lebens für Fußball interessierten und Ecke nicht von Abstoß unterscheiden konnten. Sie richteten in diesen Stunden ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Stadion, als sei es eine Salatschüssel, in der sich die Gefühle des gesamten Landes trafen und zu einem bunten und schmackhaften Ganzen mischten. Auf den Straßen war es totenstill, in unserem Wohnzimmer tobte das Leben. Meine Tante Monika balancierte mangels besserer Sitzgelegenheit auf einem Gartenstuhl und wollte alles über Oliver Kahns Familienstand wissen.

Meine Frau hüpfte wie ein Storch mit dem vollen Kaffeetablett über die ausgestreckten Beine der Kinder meines Freundes Peer Brigge, die sich auf diversen Kissen sielten und uns allen mit Wachsstiften eine Deutschlandfahne auf die Stirn gemalt hatten. Auch ihrer Oma, die kerzengerade und erwartungsvoll neben mir auf dem Sofa saß und die Nationalhymne mitsang. Sie wollte am nächsten Tag zu Kur nach Bad Bevensen, und da sie vorher noch mal ihre Familie sehen wollte, hatte Peer sie kurzerhand mitgebracht.

Daneben diskutierte Anja Brigge mit den Nachbarn, deren Fernseher gerade jetzt defekt war, über die Frisuren der Schiedsrichter.

Anstoß. Sieben Minuten später Freistoß für Deutschland, ganz nah am gegnerischen Strafraum.

„Mensch, lasst das doch den Ballack machen!“, brüllte Peer und wischte sich schon den Schweiß von der Stirn, der die Deutschlandfahne schmelzen ließ.

„So darf doch die Mauer nicht stehen! Sind die bekloppt?“, ereiferte sich sein Sohn.

„Tooor!“, schrie der Nachbar, der aus Ärger über seinen Fernseher schon längst nicht mehr nüchtern war.

„Der Torwart ist ja fantastisch“, sagte Oma Brigge begeistert. „Guckt doch mal, wie der springen kann! Der hüpft so schnell hin und her, dass da keiner vorbei kommt. Wie ein Gummiball. Der macht alles dicht.“

„Oma, das ist der gegnerische Torwart. Der darf gar nicht gut sein“, belehrte Klein-Tina sie tadelnd.

Der Torwart hatte tatsächlich eine bemerkenswerte Technik. So was hatten wir noch nie gesehen. Ballack hatte noch nicht mal Luft geholt, da sprang der schon wie ein Wilder von rechts nach links, von links nach rechts, von unten nach oben und schlug dabei mit den Armen wie ein startender Schwan mit den Flügeln. Obwohl er eher klein war, füllte er den ganzen Torraum. Konfus semmelte Ballack den Ball weit über die Latte.

„Ist so was erlaubt?“, regte sich Peer auf.

„Der Torwart ist einfach Klasse“, freute sich Oma Brigge. „Der ist konsequent. Der macht das mit Leidenschaft.“

„Mutter“, jammerte Peer, „Du kannst unmöglich die Nationalhymne singen und dann diesen unfairen Typen anhimmeln!“

„Der sieht doch gar nicht gut aus“, fand meine Frau zu meiner Zufriedenheit.

„Och, na ja“, sagte Tante Monika.

„Der ist aber doch gut“, beharrte Oma Brigge. „So wär ich auch gern gewesen. So hätt ich gern gelebt.“

„Wie meinst’n das jetzt?“, fragte Anja.

„Na, der ist doch überall. Er lässt keine Ecke aus.“ Sie fuchtelte nachdrücklich mit ihrem Stock. „Der ist springlebendig. Und mutig. Es ist ihm wurscht, wie er aussieht, auch wenn er anders ist als alle anderen. Der macht sein Ding, so wie er es für richtig hält.“

„Ruhe“, schrie Peer, „wer hat denn jetzt diese gelbe Karte gekriegt?“

Dann ein kollektives Aufstöhnen. Gegentor! „Was ist mit dem Kahn los“, ereiferte sich der Nachbar. „Das könnte ich ja besser.“

„Die sollen wieder auf der anderen Seite spielen“, forderte Oma Brigge, „ich will den Torwart sehen.“

„Der soll bloß stillhalten“, knurrte Peer, „wir brauchen sofort den Ausgleich!“

„Habt Ihr noch Bier?“, fragte der Nachbar.

„Der Torwart braucht auch keins“, sagte Oma herausfordernd, „der ist hellwach.“

Ich holte eine Runde Bier, und eine Apfelschorle für Oma Brigge.

„Peer“, sagte sie als der ihr einschenkte, „war ich auch so gut?“

Peer sah sie an. In ihrem Ton war etwas, was ihn für einen Moment sogar vom WM-Endspiel ablenkte.

„Du warst super“, sagte er, „auch wenn wir den einen oder anderen Unfug und manche schlechte Note an dir vorbei gemogelt haben. Du warst immer überall, wo man dich gebraucht hat. Egal, wie sehr du springen musstest.“

Anja klopfte ihr auf die Schulter. „Du hast jedes Problem aufgefangen, auch ohne große Handschuhe“, ergänzte sie schmunzelnd.

„Wir waren eine gute Mannschaft, unsere Familie – oder?“, fragte sie Peer und ergriff ihn beim Handgelenk.

„Das sind wir“, versicherte er und drückte sie, „und du warst ein besserer Kapitän als Olli Kahn, da kannste sicher sein!“

„Schade, dass ich nicht immer so frech und übermütig war wie dieser Torwart.“ Oma Brigge lächelte wieder. „Setz dich, Junge, wir wollen Fußball gucken. Es ist nur so, der Bursche da erinnert mich irgendwie an das Beste in meinem Leben.“

Der Nachbar war eingenickt, die Kinder rollten zufrieden auf dem Teppich herum und kauten Gummibärchen; selbst auf dem Spielfeld tat sich nicht viel. Bis wie aus dem Nichts, der Ausgleich fiel. „Getunnelt!“, schrie Peer. „Herrlich, wie der den getunnelt hat!“

Peers Sohn stürzte im Freudentaumel nach draußen und warf mit Knallfröschen um sich.

„Siehste“, sagte Oma Brigge, „der Torwart ist ja sogar noch besser, als ich dachte.“

„Wieso denn, Oma? Der hat doch gerade den Ball ins Tor gelassen!“ Tina verstand gar nichts mehr.

„Schon, aber sieh ihn dir an.“

Der Torwart saß auf dem Gras und lachte herzlich, stand dann auf und schüttelte dem deutschen Stürmer die Hand.

Eigentlich gefiel er mir auch.

„Der kann auch über sich selber lachen, wenn ihm mal was danebengeht! Das versuche ich nach 82 Jahren immer noch zu lernen“, erklärte Oma Brigge. „Na ja, aber den Spaß, den der bei der Arbeit hat, den hatte ich auch.“

Der Torwart stand nämlich schon wieder im Tor und hüpfte, hin und her, auf und ab, und schlug dabei mit den Armen als sei das Leben ein einziger Flugversuch. Und wir warteten auf unseren Führungstreffer. Und warteten. Und aßen Kuchen und warteten noch weitere 45 Minuten, und warteten während der Verlängerung. Die Luft wurde trotz des offenen Fensters stickig und der Nachbar schnarchte. Die Farben der Deutschlandfahnen waren längst auf Nasen und Ohren verschmiert, und wir waren heiser vom Brüllen.

Dann kam das Elfmeterschießen. Auch Oma Brigge hielt es nicht mehr auf dem Sofa.

Und dieser merkwürdige Typ hüpfte auf der Linie seines Tores. Hin und her, auf und ab, und schlug mit dem Armen, als wollte er die Welt umrühren.

Zu gern hätte ich einen Weltmeister Deutschland gefeiert, aber auch ich erwischte mich bei dem heimlichen Wunsch, dieser ungewöhnliche Mensch würde alle Bälle halten.

Ich glaube, wir sind alle ein wenig mitgesprungen an diesem Frühsommerabend, an dem Deutschland endlich wieder Weltmeister werden wollte. Wir haben mitgefiebert. – Mit dem gegnerischen Torwart. Ich weiß nicht, ob es seine Begeisterung war, die uns angesteckt hatte, oder Oma Brigges. Jedenfalls hielt er alle Bälle.

Deutschland wurde Vizemeister. Und wir waren müde und merkwürdig zufrieden.

Am Tag danach fuhr Oma Brigge zur Kur. Zwei Wochen später rief ich bei Peer an. „Der ist nicht da“, krähte Tina aufgeregt ins Telefon. „Oma ist heute Nacht gestorben. Die Klinik hat angerufen. Sie ist einfach eingeschlafen.“

Geistesabwesend holte ich die Post aus dem Briefkasten. Zwischen den Bankauszügen lag eine bunte Postkarte aus Bad Bevensen, mit Datum vom Tag davor.

„Hallo, Ihr Lieben“, stand da mit fester Handschrift, „Da wo ich jetzt bin, geht es mir wunderbar. Der Nachmittag bei euch hat mir sehr gut gefallen. Und der Torwart war einfach klasse.“

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Ein alter Zopf

Ein alter Zopf

© Patricia Koelle

Das würde sie nie schaffen! Nita fuhr sich durch die kurzen silbrigen Haare, wischte die Spinnweben fort, die zusammen mit neuen Zweifeln immer wieder aus den dunklen Kellerecken in ihre Ohren gerieten und an ihrer Stirn kleben blieben. Wie kam sie nur dazu, ihr bisheriges Leben zusammen mit diesen Kartons zu entsorgen und woanders einen Traum zu beginnen? Und das, obwohl sie selbst entsorgt worden war, in den Vorruhestand geschickt weil es keinen Platz mehr für sie gab.

Sollte sie nicht doch die Kündigung der Wohnung zurücknehmen, das Vorkaufsrecht für das winzige Haus an der fernen Küste ebenso, und alles lassen wie es war? In den Kartons, die zum Teil aus dem Haus ihrer längst verstorbenen Eltern stammten und inzwischen nach den alternden Kartoffeln im Nachbarkeller rochen, schien sich von einer Brieföffnersammlung bis hin zu Schuhlöffeln alles zu befinden – außer dem Mut, den sie gebraucht hätte.

Unter einer Zigarrenkiste voller Papierflugzeuge stieß sie auf eine längliche Schachtel mit Goldaufdruck. „Juwelier Huber, Fontanestraße“ stand darauf. „Eine Perlenkette?“, dachte Nita, die sich dunkel daran erinnerte, wie ihre Mutter an Festtagen eine solche andächtig aus einer ähnlichen Schachtel gehoben hatte. Sie öffnete den Deckel. Zwischen raschelndem Seidenpapier ruhte etwas Längliches, das sie im Dämmerlicht nicht gleich erkannte. Nita nahm es in die Hand. Seidig fühlte es sich an, weich und fest zugleich, leicht und schwer, fremd und vertraut. Erschütternd vertraut! Sie schloss die Augen und stand von einem Atemzug zum anderen barfuß im Sommergras.

Der Wind weht ihr neues Kleid um ihre Knie, ein Kleid federleicht und ausgelassen wie Schmetterlingsflügel, ein Kleid mit Rüschen und einer Wiese aus Mohnblüten und Kornblumen darauf, ein Kleid aus Träumen und Zukunft, das Kleid einer Prinzessin. Und Prinzessin ist sie, fünfjährig: die Welt liegt ihr zu Füßen, reicht bis an den weinüberwucherten Gartenzaun und unendlich weit darüber hinaus bis zu sämtlichen Geheimnissen, die das Leben kennt, nur Nita noch nicht. Sie ist sicher, dass sie mit den Schwalben sprechen könnte, die über ihr in das gewaltige Blau des Himmels pfeilschnelle Kringel zeichnen, wenn nicht heute, dann morgen, denn sie weiß, sie sind seelenverwandt. Der Klee duftet nach Honig zwischen ihren Zehen, und sie muss nur darauf achten, den Bienen aus dem Weg zu gehen. Die Bienen können stechen, doch sonst wartet alles auf sie, nur auf sie, gehört ihr, ist Teil von ihr, von den Ameisen, die ihr winzige abenteuerliche Wege zeigen, bis zu den Wipfeln der schiefen Weide, in der die Windgeister flüstern, nach ihr rufen, bis sie zu ihnen hinaufklettert und atemlos auf der rauen Rinde hockt, hoch über der regenfeuchten Erde, der großartigen, schimmernden, bewegten, flüsternden, singenden endlosen Welt. Die himmelblaue Schleife bleibt an einem Zweig hängen. Ihre Haare lösen sich aus ihrem Zopf, mischen sich unter die Windgeister, fliegen und flüstern mit ihnen. Lang sind sie, so lang, dass Nita darauf sitzen kann, kindlich weich noch wie Pusteblumensamen, hell wie Sand und Honig, sonnenwarm. Haare, die nach Seife und nach Kindheit duften und den Wundern, um die Erwachsene nicht mehr wissen, Haare wie sie einer Prinzessin gebühren, die nicht auf den Gedanken kommt, dass man sich vor dem Leben fürchten könnte.

Eine Stimme ruft nach ihr. Unter der Weide steht ihr Vater, den kein Wind beugt, groß, fängt sie auf, sie weiß, dass er sie auffängt, springt ohne Zögern. Auf seinen Schultern darf sie ins Haus reiten, schlingt ihm ihre Haarsträhnen um die Ohren, eine rechts, eine links: das sind die Zügel, mit denen sie ihn steuert, auch wenn er es nicht bemerkt, denn seine Gedanken sind woanders, nicht in ihrer Welt. Sie ist nahe am Himmel auf Vaters Schultern, näher als in der Weide, die doch viel höher ist. Vater kennt sich aus mit dem Himmel. Manchmal, wenn die Sommernächte so warm sind, dass sie sich wie Tage anfühlen, holt er Nita aus dem Bett, aus ihrem Traum heraus in einen anderen. Sie trägt einen kurzen Schlafanzug und ihre offenen Haare, und er hält sie im Arm, bringt sie auf den Balkon, auf den der Mond einen Glanz wirft und ihr davon abgibt. Wie eine der Wolken fühlt sie sich, die er silbern macht, denn ihr Haar sieht genauso aus in seinem Licht und auch das Funkeln der Sterne fängt sich darin, bestimmt, sie spürt es. Vater hält sie hoch, so dass sie durch sein Fernrohr sehen kann, und Nitas Blick trifft den Planeten Saturn, der einen Ring trägt, und dann sieht sie dem Mond, auf dem es wasserlose Meere aus Dunkelheit gibt, direkt ins Gesicht. Das Schwarz in dem langen Rohr würde sie einsaugen und geradewegs in die Nacht schießen, wenn Vater sie nicht so festhielte.

Manchmal darf sie auch noch Partygäste begrüßen, ehe sie ins Bett muss. Dann tanzt ein Mann in einem feierlichen Anzug und Rasierwasserduft ein paar Schritte mit ihr, und es macht nichts, dass sie so klein ist, denn ihre Haare sind lang und fliegen um sie herum, und sie ist Prinzessin in ihrer Mitte und die Zukunft voller Versprechen.

Außer mit dem Gras und der Weide und dem Mond und dem Saturn und den Schwalben ist Nita auch mit dem Kirschbaum befreundet. Wenn er blüht, steht sie darunter und es schneit weiße Flocken Frühling auf ihr Haar, die darin hängen bleiben, so dass der Duft ihr folgt. Diese Flocken schmelzen nicht. Darum wird der Frühling ewig dauern.

Und doch: auf die Kirschblüte folgen Erdbeeren und reife Äpfel und Kastanien, schließlich sind es goldene Blätter, die sich in Nitas Haar verfangen; und bevor wieder Frühling ist, geschehen drei Dinge: Der Kirschbaum wird gefällt, man schneidet Nitas Zopf aus praktischen Gründen ab, und sie kommt in die Schule.

Dass der Zopf ab ist, findet Nita nicht schlimm. Es ist tatsächlich praktischer. Das Haar fesselt sie nicht mehr im Schlaf, keine Bürste beißt sich mehr hartnäckig darin fest, und kein Nachbarsjunge hängt es mehr in den Teich zu den Wasserkäfern. Außerdem ist die Schule ein Abenteuer, das die Wochen verschluckt, schneller als sie denken kann.

Nur als Prinzessin hat sie sich nie mehr gefühlt, wagte nie wieder, sich für schön zu halten.

Beinahe vielleicht, Jahrzehnte später, während ihrer Zeit mit Lucas. Mit ihm war Leben zwar nicht Frühling gewesen, doch Sommer: warmer, tiefer Sommer, und Nita fühlte sich wohl mit ihren kurzen, strubbeligen Haaren, in denen sich auf ihren glücklichen gemeinsamen Streifzügen die glänzenden Fäden des Altweibersommers niederließen als wären sie dort zuhause. Lucas aber war nun Teil der Erde unter der ausladenden Buche, die von ähnlichen Wesen war wie er und vom Friedhofshügel aus die Stadt überblickte, so wie Lucas stets den Überblick gehabt hatte.

Oben klingelte das Telefon …

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Kurzgeschichte, haarige Geschichte, Haare, Patricia Koelle, Zopf

An der eigenen Glatze aus dem Sumpf gezogen

An der eigenen Glatze aus dem Sumpf gezogen

© Patricia Koelle

Sophie klammerte sich mit beiden Händen an die Kante der Untersuchungsliege, auf der sie saß. Ihre Beine hingen ins Leere. Der Arzt, der vor ihr saß, leuchtete ihr mit einer schneidend hellen Taschenlampe ins Gesicht. „Kann es sein, dass Sie Alkoholikerin sind?“, fragte er sie. Kein Vorwurf, keine Neugier in der Stimme. Sachlich. Aber so, dass sie hörte: Er kannte die Antwort und wollte herausfinden, ob sie sie auch wusste. Ob sie es zugeben würde.

Sophie war klar, dass dies der Augenblick war, auf den sie sich zubewegt hatte, seit sie sich erinnern konnte. Der Augenblick, an dem sich die Wahrheit groß und unvermeidlich vor ihr aufbaute wie eine Betonwand, gegen die man knallt, ganz gleich wie sehr man auf die Bremse steigt. Doch es fehlte ihr die Kraft, das Ja auszusprechen. Stattdessen nickte sie langsam: zweimal, um ganz sicher zu gehen. Der Arzt sah ihr noch einen Augenblick länger ins Gesicht, dann schaltete er die Taschenlampe aus, als sei er zufrieden. Sophie wusste, wenn sie verneint hätte, hätte er gesagt: „Dann kann ich ja nichts für Sie tun“, und sie allein gelassen. Sie hätte gehen müssen, und es wäre ihr Tod gewesen. Daran hatte sie keinerlei Zweifel.

Heute Morgen hatte der Wecker wie immer um vier Uhr geklingelt. Sie hatte mit zitternder Hand nach der Bierflasche gegriffen, deren Inhalt ihren Magen auf den Rest des Tages vorbereitete, dann nach dem verdünnten Wodka. Sie stellte abends beides neben das Bett, sonst hätte sie am nächsten Morgen gar nicht aufstehen können. Schluck für Schluck hörte ihre Hand auf zu zittern und mit dem ersten Vogelzwitschern in der Dämmerung vor dem Fenster konnte sie sich aufsetzen. Wenn sie ihren Pegel erreicht hatte, stand sie auf, zog ein fröhlich geblümtes Sommerkleid an, frisierte sorgfältig ihre glatten, mit untertriebener Eleganz geschnittenen Haare, packte ihre Akten und zwei Wasserflaschen, eine mit Wasser, eine mit Wodka gefüllt, und fuhr zum Dienst. Das heißt, normalerweise fuhr sie zum Dienst. Seit Jahren. Doch an diesem Morgen, als sie auf der Bettkante saß, wusste sie, dass der Tag der Entscheidung gekommen war. Sie würde entweder heute aufhören zu trinken oder sie würde statt zur Arbeit zu gehen den Rest ihres Lebens unwiderruflich in dem dunklen Abwasserteich mit den steilen Ufern versenken, an dem sie nachmittags oft saß und beobachtete, wie Algen und Blütenstaub verzerrte Bilder wie Gesichter auf die Oberfläche malten. Sie sehnte sich danach, dass dieses Dunkel und diese Oberfläche sie verschluckten. Der Teich rief sie, lockte mit einer tonlosen unwiderstehlichen Musik.

In dieser Nacht aber hatte sie geträumt, wie sie in ihrem eigenen Sarg lag, hatte gesehen und gespürt, wie weiße Maden ohne Eile ihren Körper verzehrten. So deutlich war alles gewesen als wäre es viel mehr als ein Traum, und die Erinnerung daran verflog nicht wie andere Träume mit dem Tageslicht. Sophie hatte sich zum Telefon getastet und ein Taxi gerufen. Sie kannte den Namen des Krankenhauses, das für solche wie sie Hilfe anbot.

Der Arzt steckte die Taschenlampe ein wie eine Waffe, die nicht mehr gebraucht wird, jedenfalls nicht gleich. „Nun“, sagte er, „dann gehen Sie zum Ihrem Hausarzt, lassen sich eine Überweisung geben, und wenn irgendwann ein Therapieplatz frei wird, können wir Sie aufnehmen. Wenn Sie dann noch wollen.“ Es klang nicht, als ob er daran glaubte.

Sie durfte also doch nicht hier bleiben! Sophie trafen die Worte wie ein riesiges Gewicht, und auf einmal war es, als sei ihr der Teich gefolgt, entgegengekommen mit seiner eisigen Schwärze, die sie endlich verschluckte. Als sie irgendwann wieder blinzelte, lag sie in einem Bett und der Arzt saß auf dem Fußende. „Sie sind einfach umgefallen“, sagte er. „Wir behalten Sie hier. Für alle gelten die gleichen Regeln. Drei Tage Bettruhe, auf die Toilette nur in Begleitung einer Krankenschwester, dann sechs Wochen Gruppentherapie. Sie werden den Mist, den Sie sich eingebrockt haben, selbst auslöffeln. Wir machen hier einen kalten Entzug, das heißt, wir werden Ihnen nichts leichter machen, indem Sie Pillen gegen Erbrechen, Zittern, Alpträume, Halluzinationen bekommen. Wenn sie Medikamente, Alkohol oder Drogen schlucken oder auch nur einen Schritt vom Gelände machen, fliegen Sie raus. Sie sind morgens um sieben angezogen, haben Ihr Bett gemacht und erscheinen zum Frühsport. In der ersten Woche kein Telefonieren. Radio und Fernsehen ist verboten. Konzentrieren Sie sich auf sich selbst.“

Eine Schwester prüfte ihren Blutdruck, kritzelte etwas in eine Akte, murmelte dabei, „weiblich, vierunddreißig Jahre, Untergewicht“. Dann war Sophie allein in einem Zimmer mit drei Betten. Vor dem Fenster war Herbst; ein Kirschbaum trug gelbe Blätter und lärmende Spatzen. Die Welt drehte sich in einem Strudel und sie schloss die Augen, unendlich erleichtert. Sie musste nicht mehr lügen, zum ersten Mal seit Jahrzehnten, nichts anderes zählte. Als sie sie wieder öffnete, saß eine Frau auf dem gegenüberliegenden Bett. „Was für ein wunderschönes Gesicht“, war Sophies erster Gedanke. Veilchenblaue gütige Augen unter einem Kopftuch, eine fein geschwungene Nase und ein melancholisches Lächeln. Ein Anblick, der Sophies Augen wohltat in diesem kahlen, ölfarbigen Zimmer mit dem zerkratzten Linoleum und metallenen Wandschränken. Vielleicht auch nur ein Trugbild, aber jedenfalls besser als Maden.

„Hallo, ich bin Elvira“, sagte die Vision. „Herzlich willkommen. Ich bin schon zwei Wochen hier. Wenn du irgendwie Hilfe brauchst, frage ruhig.“

„Sophie“, murmelte sie. „Wo ist die Toilette?“

Elvira hakte sie stützend unter und brachte sie zur Krankenschwester, auch wieder zurück. „Das geht vorbei. Es geht alles vorbei. Fast alles“, sagte sie und schenkte Sophie Taschentücher. Das dritte Bett im Zimmer war leer. „Da kommt morgen eine Neue“, sagte Elvira. „Vorgestern lag noch Tina drin. Sie hatte vom Schnaps Krampfadern in der Speiseröhre. Ist auf der Intensivstation verblutet. Sie konnten nichts machen. Dabei wollte sie zur Einschulung ihres Enkels trocken sein. Ich muss jetzt zur Therapie. Ruf die Schwester, wenn was ist.“

Sophie döste den Rest des Tages, löschte alle Gedanken aus, träumte von Freiheit, einem neuen Weg. Abends sah sie Elvira zu, die im Nachthemd aus dem Bad kam, sorgfältig ihre Bluse und Hose zusammenlegte, im Schrank verstaute, die Zahnbürste wegräumte. Zuallerletzt nahm sie das Kopftuch ab. Darunter kam eine Glatze zum Vorschein, spiegelblank. Kein Flaum, nichts. Sophie war zu verblüfft, um höflich beiseite zu sehen. Elvira erschien ihr seltsamerweise noch schöner als zuvor; das zarte Gesicht auf dem langen Hals wurde von dem verletzlich nackten, wohlgeformten Schädel seltsam betont. Elvira begegnete Sophies Blick. „Nein“, sagte sie. „Kein Krebs. Keine Chemotherapie. Es ist eine genetisch bedingte Krankheit. Da wird nichts mehr wachsen. Nie wieder.“ Sie ging zu dem verkratzten, bekümmerten Spiegel hinter der Tür und starte hinein. „Seit ich hier bin, versuche ich, mich daran zu gewöhnen, mein Spiegelbild nicht mehr zu hassen. Deswegen habe ich damals angefangen zu trinken. Ich bin Lehrerin“, sagte sie und setzte sich auf Sophies Bettkante. „Als mir die Haare ausgingen, begannen die Kinder zu lachen, zu tuscheln. Ich fühlte mich verachtet. Meine Autorität, mein Selbstbewusstsein, es war, als verschwände alles mitsamt den Haaren im Abfluss.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht einmal eine Perücke hält auf meinem Kopf. Nur der Alkohol hielt noch zu mir. Dachte ich …“ Sie sah zu dem leeren Bett hinüber. „Aber irgendwann müssen wir uns entscheiden.“ Sie wies auf etwas Braunes, das schlaff an einem Kleiderhaken hing. „Tinas Perücke. Sie hatte schöne, weiße Haare, aber sie trug die Perücke darüber damit man ihr Alter nicht sah. Sah noch älter aus dadurch. Jetzt ist sie weg und ihre Perücke noch da. Dafür sind meine Haare weg, aber ich noch da, weiß nur nicht, wozu.“

„Ich finde dich schön“, sagte Sophie und dachte, dass das seit langem das die erste Wahrheit war, die sie aussprach.

„Viele sagen das. Aber ich kann es nicht sehen. Nicht glauben. Immerhin habe ich seit vierzehn Tagen und drei Stunden nichts mehr getrunken. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Elvira“. Sophie war heilfroh, nicht allein zu sein mit dem Dunkel, in dem die Maden sich verbergen mochten.

Als sie beide nicht schlafen konnten, erzählte sie Elvira von den Maden. Elvira war ein Mensch, dem man Dinge erzählen konnte. „Maden“, sagte Elvira nachdenklich. „Je mehr ich getrunken habe, desto nackter sah ich die Wahrheit und mich. Glaubst du, wenn ich weiter trinken würde, würde ich irgendwann Haare auf meinem Kopf sehen?“

„Nein“, behauptete Sophie. „Maden.“

Drei Tage später war ihre Bettruhe vorbei. Ihr Magen akzeptierte wieder Nahrung und ihre Knie fühlten sich beim Gehen nicht mehr so unzuverlässig an. Von nun an begleitete sie Elvira dreimal am Tag in die Gesprächsgruppen. Als sie am ersten Abend zurück ins Zimmer kamen, saß auf dem leeren Bett eine Neue. „Hallo“, sagte sie mit einem hellen Lächeln, das nicht an diesen Ort zu passen schien. „Ich bin Nelly.“ Nelly hatte eine Haut von der Farbe feinen Tees an einem goldenen Sommerabend und trug tiefschwarze Locken bis zur Taille. Neben ihr und Elvira kam sich Sophie durchschnittlicher vor denn je. Alle Gründe, warum sie damals mit dem Trinken begonnen hatte, schossen ihr wie neu durch den Kopf. Von einer lähmenden Schüchternheit geplagt, die ihr die Stimme raubte und den Hals bis zum Ersticken zuschnürte, so war sie gewesen, seit sie sich erinnern konnte. Bis zu jener eigentlich traurigen Familienfeier, an der sie mit neun Jahren ihren ersten Sekt trinken durfte. Als ihr Vater ihr fünf Jahre später vor einer Party einen Martini in die Hand drückte und sagte: „Trink einen Schluck, dann bist du charmanter“, war sie auf diesen Trick längst selbst gekommen. Mit dem Alkohol hatte sie einen Zauber in der Hand, der ihr schließlich sogar eine Karriere im Umweltamt ermöglichte. Was nun ohne diese trügerische, tödliche Stütze aus ihr werden sollte, wusste der Himmel. Aber Nelly, die Schönheit, war offenbar auch nicht ohne ausgekommen.

Mit Nelly kam eine seltsame Art von Fröhlichkeit in das Zimmer. Die drei Frauen lachten viel, abends, so wie man eben lacht am Rande des Abgrunds. Ein wenig war es wie im Mädcheninternat, und mit jedem Lachen rückte dieser Abgrund ein wenig weiter in die Ferne. Doch Nelly war es auch, die nach ihrem ersten Gruppengespräch nach einer Nagelschere griff und sich dicht an der Kopfhaut eine ihrer glänzenden langen Locken abschnitt. „Bist du wahnsinnig?“, entfuhr es Elvira. „Was soll der Irrsinn?“ Nelly heftete die Strähne ungerührt mit einem Pflaster an die Wand über ihrem Bett. „Ich war mal Model“, erzählte sie. „Dann Verkäuferin in einer Edelboutique mit angeschlossenem Kosmetikladen. Die wandelnde Werbung für Haarpflegemittelchen und Wimperntusche.“ Sie ging zum Spiegel und betrachtete ihre Schläfe, die nun bloß lag. „Niemanden hat je interessiert wie ich bin. Und ich habs vergessen. Jetzt will ich nachsehen!“ Nelly drehte sich zu Elvira um. „Bei dir …“, sagte sie zögernd, „bei dir sieht man, wer du bist.“

„So habe ich das noch nie betrachtet“, sagte Elvira verblüfft. „Aber glaub mir, es hat mehr Nachteile als Vorteile!“

„Außerdem wird das mein Kalender“, meinte Nelly und zeigte auf die einsame Locke, die wie erhängt an der Wand baumelte. „Mit jedem Tag werde ich hier ein Stück von meinem alten Leben zurücklassen. Und jede Strähne wird mir zeigen, dass ich wieder einen Tag trocken geblieben bin.“ Sie ließ sich nicht davon abbringen. Jeden Abend gesellte sich eine weitere Locke zu jenen an der Wand. Nelly begann links mit dem Kahlschlag und arbeite sich zur rechten Schädelhälfte hin.

„Mach es doch wenigstens symmetrisch!“, jammerte Elvira.

„Ein Schmetterling schlüpft auch nicht an beiden Enden aus der Larvenhaut“, sagte Nelly.

„Schwester“, sagte Elvira zur resoluten Schwester Lina, die auch trockene Alkoholikerin war und wusste, wovon sie sprach, „können Sie ihr das nicht verbieten?“

„Was sie nicht schluckt, ist erlaubt“, sagte Schwester Lina. „Wenn es ihr hilft, ist es in Ordnung. Wir können da nicht wählerisch sein. Wenn du ertrinkst, fragst du auch nicht, wie das Seil aussieht, das man dir zuwirft.“

Von da an hörte Elvira auf zu murren, aber es fiel ihr sichtlich schwer. Wenn sie abends ordentlich in einer Reihe anstanden, um ihr Abendbrot mit den abgezählten Scheiben Wurst und Käse zu bekommen, betrachtete Sophie Elvira, die so groß und aufrecht und mit eleganter Gelassenheit vor ihr stand. Souverän wirkte sie und überlegen. Niemand sah ihr die Verletzlichkeit an und die Angst und die Geheimnisse, die sie ausmachten.

Einmal bekam Sophie Besuch von einem älteren Kollegen. Er kam gerade von einer Vortragsreise aus Paris und brachte ihr eine Flasche französisches Parfüm mit. Sophie teilte es mit Nelly und Elvira und für einen Moment fühlten sie sich nicht mehr wie Patienten, auch nicht mehr als Sünder, sondern zum ersten Mal seit langer Zeit als Frauen. Im Zimmer duftete es statt nach Linoleum und Desinfektionsmitteln nach Sommer, Ernte und Hoffnung. Auf der Packung glänzte ein goldener Schmetterling, der sich zu einem tiefblauen Abendhimmel aufschwang. Sophie stellte die Schachtel auf die Fensterbank wo sie das Licht einfing, und träumte davon es ihm eines Tages nachzumachen.

Die Tage vergingen, dann Wochen. Nellys Schädel wurde zusammen mit dem Kirschbaum vorm Fenster stetig kahler. Wenn kein Gruppengespräch war, verrichteten sie Dienst in der Kleiderkammer oder in der Küche. In ihrer Freizeit gingen sie spazieren, das heißt, sie liefen wie aus dem Rhythmus gekommene Uhrzeiger eine Runde nach der anderen um das Klinikgelände. Hätten sie auch nur einen Schritt vom Grundstück getan, wären sie rausgeflogen. Und das traute sich noch keine von ihnen. Die „Käseglocke“, wie es hier hieß, gab ihnen Sicherheit. Hier gab es keinen Alkohol, selbst wenn sie gewollt hätten. In der Cafeteria verkauften sie nicht einmal Kindermilchschnitten, wegen des Alkoholgehalts darin. Dafür stopften sie sich mit Überraschungseiern voll. Aus irgendeinem Grunde half die Schokolade gegen die Gier nach dem Suchtstoff, und das alberne Spielzeug darin packten sie aus als übten sie dafür, auch in sich selbst am Ende solch fröhliche Überraschungen zu finden.

Irgendwann mussten sie dann doch das Gelände verlassen. Jeder Patient war ab der dritten Woche verpflichtet, auch Selbsthilfegruppen außerhalb zu besuchen. Sie bekamen ein Mundstück, und jedes Mal, wenn sie nach der Sitzung in die Klinik zurückkehrten, mussten sie ins Gerät pusten. Wer Promille hatte, war verurteilt, seine Sachen zu packen. Als Sophie das erste Mal aus dem Tor trat, hatte sie das Gefühl, der Boden schwanke unter ihren Füßen. Sie musste sich an Elvira festhalten, und in der U-Bahn an der Haltestange. Auf dem Rückweg ging es schon besser, aber erst in der Klinik atmete sie auf. In der Einfahrt kam ihnen schwarz ein Leichenwagen entgegen. „Habt ihr schon gehört?“, erzählte ihnen oben Inga aus dem Nebenzimmer. „Das war Wolfgang. Der hat zum vierten Mal Brennspiritus getrunken. Das war einmal zu viel.“

Wolfgang. Der dicke, freundliche Wolfgang aus der Nachmittagsgruppe, über dessen Witze man sogar lachen konnte. Er war Schornsteinfeger gewesen. Die Balance auf den Dächern hatte er nur volltrunken halten können, hatte er erzählt. Den Brennspiritus hatte er immer dann getrunken, wenn er sonst nichts mehr im Haus hatte. „Aber ich habe ihn mit Tee verdünnt. Dann geht das schon“, hatte er versichert. Die Ärzte jedoch waren recht verwundert, dass er das überlebt hatte.

Nelly, Sophie und Elvira lachten an diesem Abend nicht. Es war, als ginge nichts voran und der Schrecken sei kein bisschen zurückgewichen. Doch dann deutete Nelly auf die lange Reihe Locken an der Wand. „Das sind meine Zeugen! So viele Tage bin ich schon trocken“, sagte sie entschieden. „Da können es auch noch ungefähr tausend mehr werden.“

„Dafür reichen aber nicht mal deine Haare“, sagte Elvira ein wenig spitz.

„Nein. Von jetzt an weiß ich es auch so!“ Nelly schnitt sich die letzte Locke ab. Über dem linken Ohr wuchs bereits wieder dunkler Flaum, der sich, kurz wie er war, selbstbewusst zu kringeln begann.

Am nächsten Tag waren Elviras sechs Wochen um und sie musste die Klinik verlassen. Die Ärzte hielten sie für stabil. „Willst du unsere Adressen haben?“, fragte Nelly. „Wir könnten uns schreiben.“

„Nein. Ich mache einen klaren Schnitt. Von hier an muss ich es allein schaffen. Ich wünsch Euch Glück, Kinder!“

Sie sahen ihr nach, wie sie mit dem kleinen Koffer in der Hand aus dem Tor trat und hinter den Pappeln verschwand, eine elegante Frau mit sicherem Schritt.

„Lässt du deine Haare jetzt wieder wachsen?“, fragte Sophie in die Stille hinein.

„Ja“, sagte Nelly. „Komm, ich lade dich in die Cafeteria ein.“ Sie setzten sich an ihren üblichen Tisch. Neben jede Tasse legte Nelly ein Überraschungsei. Als Sophie die gelbe Plastikkapsel öffnete, freute sie sich im Stillen, dass ihre Hände schon lange nicht mehr zitterten. Aus der Kapsel ringelte sich ihr etwas Buntes entgegen. „Was ist das denn?“

Nelly nahm es ihr aus der Hand und lächelte. „Eine von diesen künstlichen Haarsträhnen mit einer Klammer oben dran, die sich die Kinder ins Haar stecken. Komm her!“ Sie befestigte die Strähne geschickt hinter Sophies rechtem Ohr. „Ein bisschen Farbe steht dir ganz gut!“

Später betrachtete sich Sophie im Spiegel. Es stand ihr wirklich. Früher hätte sie sich mit so etwas niemals auf die Straße getraut. Doch ihr war, als blickten ihr aus dem halbblinden alten Spiegel nicht nur ihr eigenes, sondern auch Elviras und Nellys Gesicht entgegen und dahinter schemenhaft die Gesichter vieler Frauen, die sie nicht gekannt hatte, die aber etwas von sich in diesem Zimmer zurückgelassen und neuen Mut aus dem Nichts gefischt hatten.

Draußen fiel der erste Schnee. Sophie steckte sich die Überraschungssträhne, in der alle Farben des Frühlings verflochten waren, auch am nächsten Tag ins Haar.

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Lebensgraffiti

Berliner Mauer - Graffiti

Lebensgraffiti

© Patricia Koelle

Berliner Mauer - Graffiti

Ich träumte von einer Wiese, über die ein fünfjähriges Kind wie ich rennen konnte, so weit der Atem reichte, und die am Horizont einen Himmel trug anstatt einer Zahnreihe aus Hochhäusern. Eine solche Wiese aus Weite, weichem Hellgrün und Blumenduft war für mich der Inbegriff von Leben, Glück und Freiheit. Dort wollte ich ein Picknick machen wie die Familien in meinen Büchern. Sie fuhren dazu einfach aus der Stadt hinaus. Meine eigene Familie aber behauptete, das sei unmöglich. „Berlin ist eine Insel“, verkündeten sie. Hocherfreut verlangte ich, zum Strand zu dürfen. Sie fuhren mit mir an den Schlachtensee und in Parks, aber das war es nicht, was ich wollte. Alles Grün stieß an verbaute Straßen. Vom Meer war nichts zu sehen. Schließlich begriff ich anhand einer Karte und einem Spaziergang an der Mauer, dass unsere Stadt aus unerklärlichen Gründen von dieser Mauer eingeschlossen war, die es unmöglich machte, einfach eine richtige Wiese zu besuchen.

Meine Schwester brachte mir dafür bei, von der Brücke so hinunterzuspucken, dass ich die S-Bahn-Waggons traf, die unten durchfuhren. Ich verstand zwar nicht, wozu, sah aber voller Neid dem Zug nach und überlegte, ob meine Spucke nun Wiesen zu Gesicht bekäme. In der S-Bahn zu fahren war verpönt, weil diese „dem Osten“ gehörte. Später fuhr sie gar nicht mehr. Die Bahnhöfe verfielen. Sie starrten mich aus blinden, zerbrochenen Fenstern an, während sich auf den toten Gleisen verlockende kleine Dschungel verdichteten. Beim Brötchenholen hastete ich daran vorbei, weil ich mir einbildete, dass dort unsichtbare Vopos spukten.

Für mich war das Grenzdrama besonders schwer zu begreifen, weil wir in den ersten Jahren nur über die DDR fliegen durften, wenn wir Berlin verlassen wollten. Ein Transit kam nicht in Frage, da mein Vater einige Jahre in den USA für die NASA gearbeitet und Zugang zu Staatsgeheimnissen hatte. Die Gefahr oder vielleicht auch nur die Befürchtung, dass man ihn oder uns zwecks Befragung festgehalten hätte, war zu groß. Für mich blieb die „Zone“ also unsichtbar.

Später flog nur noch mein Vater. Meine Mutter wagte sich mutig mit dem Auto auf die Transitstrecke, und von nun an begannen und endeten alle unsere Ferienreisen mit endlosem Schlangestehen an der kahlen, überhitzten Grenze. Die DDR stahl gnadenlos von unserer Urlaubszeit, Ferienstimmung und Geduld. Dann der Befehlston der Vopos, deren Worte mir wie Schüsse um die Ohren flogen: „Führnse Waffen oder Funkgeräte mit sich?“ Obwohl wir die Frage wahrheitsgemäß mit einem höflichen Nein beantworteten, schafften sie es irgendwie stets, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Einmal waren sie nicht davon zu überzeugen, dass wir keine Bibel dabei hatten. Wahrscheinlich brauchten sie dringend eine. Ich hasste es, wenn sich der Soldat mit der stets zu großen Uniform ins Fenster beugte und mich anstierte. „Nimm die Brille ab!“ Ich fragte mich jedes Mal, was passieren würde, wenn ich ihn bitten würde, ebenfalls die Brille abzunehmen, damit der erzwungene Blickaustausch fair wäre. Auch in meine Kinderbücher spähten sie, als wäre Pinguin Pondus höchst gefährlich für den Sozialismus. Das Auto nahmen sie auf der Suche nach klein zusammengefalteten Flüchtlingen fast auseinander und bekamen die Rückbank nicht mehr zusammen. „Dann muss das Kind vorne sitzen“, meinten sie gelangweilt. Aber da hatte meine Mutter genug. „Das ist mein Auto“, herrschte sie den verdutzten Vopo an, „und in meinem Auto sitzt mein Kind da, wo Kinder in meinem Land sitzen!“ Sprach’s und rauschte davon. Er konnte gerade noch den Fuß wegziehen.

Aus dem Fenster bekam ich auf der Durchreise sogar Wiesen zu sehen, aber aussteigen sollte man nicht. Sie dufteten auch nicht nach frischem Gras, sondern nach Chemie. Die erträumten Wiesen zum Herumstreunen gab es auf der anderen Seite, wenn wir die Grenzkontrolle endlich zum zweiten Mal hinter uns hatten und aufatmeten, weil es wieder anders roch, nach Freiheit: im Bayerischen Wald, im Harz, in der Lüneburger Heide. Doch diese Wiesen gab es eben nur in den großen Ferien. In der Heide fand ich meinen Berufswunsch. Ich wollte Schäferin werden! Dann würde ich den ganzen Tag auf einer Wiese verbringen.

Die Soldaten auf den Wachtürmen hatten es eigentlich gut. Sie durften den ganzen Tag mit dem Fernglas in die Gegend sehen, und manche blickten über Wiesen. Es kam mir aber nie in den Sinn, Grenzsoldat zu werden. Ich mochte ihre Mützen nicht, in deren Schatten sie alle gleich aussahen.

Wir hatten keine Verwandten in der DDR und besuchten die „Zone“ daher nie. Meine Eltern sahen keinen Grund, sich den Demütigungen durch die Grenzer unnötig auszusetzen. Alles, was ich vom „Osten“ kannte, war das Sandmännchen. Dadurch, dass wir ein Ost- und ein West-Sandmännchen hatten, war mein Schlaf doppelt abgesichert. Und dann war da noch das Erbstück. Einer meiner Vorfahren war Förster in Thüringen gewesen. Er entnahm geschossenen Fasanen die im Magen rund geschliffenen Steine, die diese Vögel zur Verdauung nutzten, und ließ sie in eine silberne Brosche fassen. Nun strich ich ehrfurchtsvoll mit dem Finger über das Glänzen und beneidete meinen unbekannten Urgroßvater, der in dem geheimnisvollen Land hinter der Mauer, das die Wiesen geklaut hatte, durch die Landschaft streifen durfte.

… Sie möchten wissen, wie die Geschichte weitergeht? — Die vollständige Geschichte gibt es in dem Buch / eBook


Mauerstücke
Erinnerungsgeschichten
Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle

Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-08-1 (Buch)
ASIN B005DS2KMU (eBook Amazon Kindle)

Geschichten zur Erinnerung an die Berliner Mauer und die deutsch-deutsche Grenze, die das Land von 1961 bis 1989 in zwei feindliche Lager teilten und bis heute tiefe Wunden hinterlassen haben. Autoren aus Ost und West erinnern an Vergangenes und wollen dazu beitragen, dass zusammenwächst, was zusammengehört.

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Patricia Koelle, Geschichten, Kurzgeschichte, Mauer, Berliner Mauer, DDR, Short Story, Literatur

Das Bernsteinschiff

Segelschiff

Das Bernsteinschiff

© Patricia Koelle

Segelschiff

Lina Amberger trug ein Meer in ihren Lungen, und heute war es tief wie nie. Sie würde darin versinken. Mit einer unerwartet heiteren Bereitschaft stieg dieses Wissen in ihr auf.

Einundneunzig Jahre lang war ihr Atem leicht und leuchtend durch diese Lungen geflossen, ein und aus mit den vollen, willkommenen Tagen. Nun aber war sie so weit einzutauchen. Ihr Abschied würde woanders Neues auflaufen lassen, so wie es sich ewig gehörte. Sie fühlte sich als eine Welle unter vielen. „Ich bin auf Kurs, Wetter-Willi“, sagte sie vom Sofa her zu der Figur auf der Anzeige der Funkwetterstation, die ihr Enkel Jannik ihr geschenkt hatte. Die Station klärte Lina, auch wenn ihr Atem und ihre Schritte nicht mehr vor die Tür reichten, nicht nur über die Lufttemperatur, sondern auch über Windstärke und Regenmengen auf. Wetter-Willi zeigte außerdem durch seine Garderobe an, was sie zu tragen hätte, wenn sie draußen im Tag wäre: Schal, Mütze und Pullover oder kurze Hosen und Sonnenbrille. Heute schwenkte er einen geschlossenen Regenschirm. Nicht weil sie wunderlich geworden war, sprach Lina mit ihm, sondern weil er immer da war und weil er ein Lächeln für sie hatte und weil Worte sich zu krümmen beginnen, wenn man sie an niemanden richten kann.
Doch öfter als auf Wetter-Willi ruhten ihre Augen auf dem Bild über ihm an der Wand. Dem Bild, das Niklas vor zweiundsechzig Jahren von einem Straßenhändler gekauft hatte, nachdem es ihm gelungen war, mit Hilfe seines frühlingshaften Charmes den Preis unverschämt herunterzuhandeln.

Es war ein brennend klarer Septembertag gewesen, durch den in frechen Wirbeln eine frische Brise zischte, und sie verbrachten ihn von morgens bis abends am Hafen, lehnten sich gegen den Leuchtturm und alberten herum. Ihre Blicke reisten neugierig mit sämtlichen vorbeifahrenden Schiffen und sie versuchten voll glücklichen Übermuts, die Blauschattierungen in der unfassbaren Weite zu zählen. Sehnsucht kam nicht auf, denn sie hielten sich bei der Hand und die Welt war groß und nahe genug. Erst als der Abend eine Gänsehaut bekam und die Sonne hinter den Horizont kippte und sie Krabbenbrötchen kauend durch die dunkelnden Möwenschreie landeinwärts gingen, entdeckten sie das Bild. Es lehnte mit anderen an einem Steg wie eine Nebensache. Niklas sah sofort, dass dieses eine sich deutlich vom grelltintigen Kitsch der anderen abhob. Das Motiv war keineswegs ungewöhnlich, es zeigte nur ein Segelschiff auf Wellen, einen Dreimaster. Doch dieses Schiff fuhr und atmete, und die Wellen lebten, und die Farben kamen direkt aus der Wirklichkeit dieses goldenen Abends. Der Hintergrund wirkte, als wäre das Papier von der Sonne goldgelb gebrannt und nicht von der Hand des Malers so bestimmt. Außer dem Safrangelb, das die augenblickliche Tönung des noch in den Sonnenabschied getauchten Himmels genau traf, war keine Malfarbe verwendet worden. Der bauchige Schiffsrumpf, der reichlich Raum für Schätze bot, war aus einer Schicht winziger heller Bernsteinbruchstücke aufgestreut und mit nur wenigen flüchtigen Bleistiftstrichen ergänzt. Die Bullaugen und die verwegenen Masten bestanden aus sorgsam angeordneten dunkelbraunen Bernsteinsplittern. Durchscheinende Segel aus weißem Seesand bauschten sich im Wind, und aus demselben Seesand rauschten und schäumten die Kämme braungrüner dunkeltiefer Bernsteinwellen. Über den Himmelshintergrund zogen sich feine honigfarbene Bernsteinwolken und beschertem dem Bild einen Anflug vom Funkeln der ersten Sterne; und auch am Schiffsrumpf hing verhaltenes Glitzern wie von Spritzern der Gischt.

Das Schiff trug keinen Namen, aber Mut, Zuversicht und Hoffnung; es war auf seiner Fahrt, und die Welt, in der es so sehr unterwegs war, voller Licht.

Auch den heruntergehandelten Preis konnten sie sich eigentlich nicht leisten, aber Niklas war nicht davon abzubringen. Stolz waren sie weiter in den Abend gewandert, Niklas mit dem großen Rahmen, während sie ihm den Rest des Krabbenbrötchens in den Mund steckte. Er hatte ja keine Hand frei: er trug ein Schiff.

Heute, dachte Lina, als sie sich mühsam aufrichtete um besser sehen zu können, barg das Schiff ihr ganzes unglaubliches Vermögen. Von Tag zu Tag hatte das Schiff mehr geheime Frachträume bekommen, um die nur Lina wusste. Nur einen Namen hatte es noch immer nicht. Sie hatte stets danach gesucht, nach einem, der stolz und großartig und ungewöhnlich war und den richtigen Klang hatte.

Hinter jedem Bullauge wusste sie etwas Besonderes, einen funkelnden Fang aus dem Meer ihrer Stunden mit Niklas. Den Klang seiner eifrigen Schritte im Flur. Den Geschmack der Brombeeren, die er mit vollen Händen zu ihr in die Küche getragen hatte, da er nie daran dachte, eine Schüssel mit hinauszunehmen, und die Flecken, die darum immer noch auf dem Teppich waren. Den Geruch der von ihm verlegten roten Steinfliesen auf der Terrasse nach einem Regenguss an einem heißen Nachmittag. Morgens auf dem Kissen sein Profil neben ihr, das ihr einen neuen Tag bedeutete. Den Schein der ungewöhnlichen seegrünen Lampe, die er ihr zu einem Hochzeitstag geschenkt hatte. Den diamantenen Bach durch irgendeine Wiese, an dem sie einen ganzen Junitag verbracht hatten, an dem Niklas eigentlich im Büro hätte sein müssen. Er war sehr pflichtbewusst, aber immer wieder einmal sagte er: „Manchmal ist es wichtiger, mit dir sehen zu gehen.“ Dann schenkte er ihr vierundzwanzig Stunden am Stück. Jeden dieser Tage bewahrte sie hinter den Bullaugen auf, keiner von ihnen hatte im Laufe der Jahrzehnte an Sekunden verloren.

Auch Lina hatte dunkle Stunden, in denen sie an diese Schätze nicht herankam, aber sie wusste immer, dass sie danach alles unversehrt wiederfinden würde.

Ihr Schiff war großzügig mit seinem Frachtraum, sie konnte beliebig hineinfüllen. Es gab auch Kabinen für die Freunde, die durch ihr Leben gezogen waren wie Pusteblumensamen; manche hatten in ihrer Nähe Wurzeln geschlagen, andere hatte es weitergetrieben. Längst waren sie alle auf die eine oder andere Weise fort, aber in den kleinen Kajüten des Bernsteinschiffes wohnten sie noch immer. Sie waren es gewesen, die mit Lina zusammen Niklas’ tiefes, erschütterndes Lachen so oft wie möglich hervorgelockt hatten, das durch den Garten lief und nicht nur die Dämmerung zwischen den Johannisbeerbüschen, sondern auch die Zukunft füllte. Selbst für den riesigen, hellblauen Eisberg, den einmal zu sehen sie immer geplant hatten, und bis zu dem das Leben nicht gereicht hatte, war Platz im Schiffsbauch. Es war nicht einmal Traurigkeit um ihn, denn schon in ihren Träumen war er wunderschön gewesen, weil es ein Traum war, der ihnen zusammen gehörte.

Die Klingel rief zweimal, dann knirschte der Schlüssel in der Tür: die pünktliche Krankenschwester von der Sozialstation. „Guten Abend, Frau Amberger! Sie haben ja kaum etwas gegessen! Wie fühlen Sie sich?“ Hastig räumte Schwester Bärbel das Geschirr zusammen, das der fahrbare Mittagstisch gebracht hatte. Sie sah müde und besorgt aus.

„Danke, es geht mir hervorragend“, sagte Lina beruhigend. Um die Schwester zu überzeugen, war hinter den Worten nicht genug Luft, dabei war ihre Wahrheit aufrecht wie die Schiffsmasten.
Schwester Bärbel fischte eilig ihr schlangengleiches Stethoskop aus der Tasche und richtete ihre Ohren auf die Wogen in Linas Brust. „Schon wieder so viel Wasser“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Sie hatte plötzlich Falten auf der Stirn wie der Strand nach einer Sturmflut. „Haben Sie Ihre Herztabletten nicht genommen?“

„Ich war ganz artig“, sagte Lina belustigt. Schwester Bärbel müsste in ihrem Beruf eigentlich wissen, dass kein Leben ewig auf dem Weg ist.

„Es tut mir leid, das kann ich nicht verantworten. Ich werde den Notarzt rufen.“ Schwester Bärbel stopfte im Nebenzimmer eifrige Sätze durchs Telefon. Dann kam sie zurück und nahm Linas Hand. „Frau Amberger“, sagte sie, „der Arzt wird in etwa einer Stunde hier sein. Ich muss jetzt schnell noch zu einem Patienten, aber bis der Arzt kommt, bin ich wieder da und lasse ihn rein. Sie brauchen nicht aufstehen.“

„Ist gut, Kindchen“, sagte Lina.

„Dann packe ich Ihnen auch noch eine Tasche“, versicherte Schwester Bärbel. „Es kann sein, dass er Sie ins Krankenhaus einweist. Überlegen Sie schon mal, was Sie mitnehmen wollen.“ Weg war sie. Die Tür klickte ins Schloss.

Das Meer aus Stille in der Wohnung kehrte zurück. Lina schmunzelte. Sie musste nichts mitnehmen. Es war alles geborgen in ihrem Schiff.

Der Arzt würde verstehen, dass eine Welle zu Ende geht und dass dieselbe Welle nie wiederkommt. Es ist immer eine andere, die aber so vieles aus der alten in sich weiter trägt. Und die Wellen tragen die Schiffe den Himmel entlang, und die Schätze sinken nicht, wenn sie wirklich waren.

Die Zahlen neben Wetter-Willi zeigten an, dass die Sonne heute um 19.32 Uhr untergehen würde.

Eines blieb noch zu tun. Lina fischte einen Filzstift vom Tisch und suchte nach ihren Krücken. Unter Willis wachsamem Blick sammelte sie die restliche Luft und richtete sich auf. In ihr war etwas leicht, und diese Leichtigkeit stieg auf wie eine Flut. Die Krücken brachten sie vor das Bild und sie legte die eine aus der Hand und reckte sich zum Schiff.

Schon lange hatte sie hinten auf den Rahmen „Für Jannik“ geschrieben. Jannik wusste, dass er das Bild erben würde und er wusste auch um seine Ladung. Als er klein war, hatte er sich auf ihrem Schoß gewärmt und zum Schiff aufgesehen, und sie hatte ihm davon erzählt, Schatz um Schatz, außer von den geheimen. Er wusste auch, dass noch Räume frei waren, die er füllen konnte, wenn seine Zeit war.

Aber der Name fehlte noch, und nun plötzlich wusste sie ihn. Es war ganz einfach. Er war nicht stolz und ruhmreich, aber sein Klang passte, es gab nur einen richtigen, und er war großartig genug.

„Lina Niklas“, schrieb sie, etwas krakelig, auf den Bug, der gerade auf einem hohen Wellenkamm triumphierend zum Himmel zeigte. Sie konnte den Wind spüren; eine frohe Brise wirbelte um die Masten und auch um ihre Nase und füllte die Segel neu.

„Niklas Lina“ wäre ihr lieber gewesen, aber Schiffe tragen nun einmal meist weibliche Namen.

Der Weg zurück zum Sofa war unnötig weit. Lina setzte sich behutsam auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken vertrauensvoll an den Schrank. Wie damals an den Leuchtturm.

„Wetter-Willi“, sagte sie, „Grüß den Arzt von mir.“

Sie schloss die Augen und ließ den Atem los. Er stieg unauffällig in die Welt wie Luftblasen am Seeufer an einem stillen Augusttag. Lina freute sich, dass sie sich nun nicht mehr vom Wasser würde trennen müssen, sie, die nie eine wirkliche Schiffsreise gemacht hatte. Nie war sie weiter als bis zur Insel Mainau gefahren oder mit der Fähre bis Amrum oder auf dem Wannsee mit dem blau-weißen Schlauchboot, aus dem heraus Jannik mit nackten jungen Füßen silberne Wasserkugeln in den Sommerhimmel jubelte.

Und doch hatte der Anblick von Schiffen, vor allem Segelschiffen, sie immer fliegen lassen, tief von innen heraus.

Über ihr öffnete Wetter-Willi den Regenschirm.

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Patricia Koelle
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Patricia Koelles Geschichten sind eine Lupe, die sichtbar werden lässt, wie groß Kleines sein kann. Es sind Geschichten für das verträumte Ende eines Feierabends, den Beginn eines Wochenendes oder die Bahnfahrt zur Arbeit. Geschichten von Himmel, Meer und Erde. Geschichten zum Lächeln, zum Nachdenken, zum Gesundwerden, zum Verschenken, voller Hoffnung und realistischem Zauber.

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Patricia Koelle, Geschichten, Kurzgeschichte, Bernstein, Bernsteinschiff, Schiff, Meer, Short Story, Literatur

Viktorias blauer Garten

Sternhyazinthe

Viktorias blauer Garten

© Patricia Koelle

Blumen Blüten Blau Sternhyazinthe

Die Menschen, die an der Hecke vorbei durch den lärmenden Stadtsommer eilten, verlangsamten unwillkürlich ihren Schritt. Vielleicht war es der Duft, der als unsichtbare Überraschung herüberwehte, oder auch die Ahnung von Stille, die dahinter heimlich einen Sieg errungen hatte.

Es war keine ordentliche Hecke. Wie von einem frischen Wind zerzaust stand sie in der staubschweren Junihitze und sprach ungeniert vom Frühsommerhimmel, denn sie war garniert mit zwei verschiedenen Sorten blauer Blüten. Sie bestand aus Sommerfliederbüschen, die ihre blauen Rispen kreuz und quer in die Gegend reckten, und oben darauf turnten auf ganzer Länge Trichterwinden herum und richteten unübersehbare Trompeten in alle Richtungen wie einen stummen Widerspruch gegen Abgase und Motorengebrumm. Viktoria nutzte jeden Platz doppelt, den ihr winziger Vorgarten bot. Darum kletterte auch eine Waldrebe bis in den Wipfel des Apfelbaums, so dass nachtblaue Blüten wie gute Sterne über den Früchten standen, die noch nicht mehr als kleine grüne Versprechen waren.

Viktorias Vorgarten war kaum mehr als eine verlängerte Terrasse vor ihrer dunklen Parterrewohnung. Es wirkte als strecke das Haus dem Stadtgrau frech die Zunge heraus, und so empfand es auch Viktoria. Allerdings sah man diesen Triumph von außen nicht; es blieb ihr Geheimnis, das sie nur gelegentlich mit einem Mann aus ihrer Erinnerung teilte. Sie trotzte der engen Straße, indem sie den Garten in eine blaue Schüssel verwandelte, in der sie das Licht und die Weite des Himmels fing, die Kühle der Dämmerung und die weiche Stille der Nacht. Den Gerüchen nach Benzin, Hundekot und altem Frittieröl setzte sie eine Mauer aus Hyazinthen-, Veilchen-, Heliotrop- und Fliederduft entgegen.

Der Sommer hatte den Frühling gerade erst beiseite geschoben und Viktoria war dabei, verblühtes Männertreu und Vergissmeinnicht durch Glockenblumen und Jungfer-im-Grünen zu ersetzen, die sie vorsichtig mit bloßen Händen aus der Saatschale barg und ihnen einen Platz zu Füßen des Rittersporns zuwies, der sich dicht gedrängt in sämtlichen Blauschattierungen auf dem sonnigsten Platz in die Höhe wagte. Daneben plätscherte zwischen Kornblumen ein winziger solarbetriebener Terrakottabrunnen. Er spülte die wenigen Stadtgeräusche fort, die sich über die Hecke gewagt hatten. Unter dem blaubesternten Apfelbaum standen zwischen Büscheln später Iris ein Tisch, gerade ausreichend für einen Kuchenteller und eine Tasse, und ein Stuhl, von welchem auf dem Sitz die blaue Farbe abzublättern begann. Während sie behutsam Erde um zerbrechliche Wurzeln herum andrückte, sah Viktoria wie so oft ganz deutlich Jonas dort sitzen. Dass die siebenundzwanzig Jahre alte Erinnerung an ihn manchmal konkrete Gestalt annahm, hatte sie anfangs noch erschreckt; nun war sie daran gewöhnt und empfand ihn als angenehme Gesellschaft. Er passte einfach so gut hierher. Irgendwann hatte sie auch aufgehört darüber zu grübeln, ob Jonas vom Garten angelockt wurde oder ob sie in dieser Hoffnung den Garten genau so gestaltet hatte, weil Blau seine Farbe war. Hier liefen nun die Jahreszeiten wie eine Meereswelle über die wenigen Quadratmeter im Betonozean der Stadt. Das begann im März mit Krokussen, Primeln und Hasenglöckchen und endete im Oktober mit einem Feuerwerk aus Kugeldisteln und blauen Astern.

Das Meer, Jonas‘ Blick und die Weite am Horizont – damals war ihr alles wie ein Rausch dieser einzigen Farbe erschienen. Obwohl seine Augen gelegentlich auch grau sein konnten wie ein nebelverhangener Morgen über dem Fjord. Sie hatte kein Foto aus jenem Sommer, doch wenn sie hier im Garten Jonas‘ Erinnerung begegnete, war er lebendiger als jedes Bild.

Sie waren beide allein unterwegs gewesen, in einer Pause vom Leben. Gleich hinter der Grenze zu Dänemark waren sie sich begegnet, in der Wechselstube, und dann erneut auf dem ersten Campingplatz. Von da an waren sie gemeinsam weiter gezogen, jeder mit seinem Zelt, entlang der ganzen dänischen Küste bis hinauf nach Skagen. Sie sah Jonas noch immer ganz nah vor sich, wie er auf einem Felsen stand und in strahlendem Jubel die Arme zum Himmel hob, das kalte klare Blau des Skagerraks hinter sich, auf das sich trotz der späten Stunde kein Abend senken wollte, und das Licht in seinen Augen, das sie glücklich im Innersten traf wie die Berührung, die es nie gab.

Eine Frau, von der er nur einmal sprach, spielte eine Rolle in seinem Leben, und außerdem waren Viktoria und Jonas beide mitten in einer Ausbildung an verschiedenen Enden des Landes. Eine gemeinsame Zukunft kam gar nicht erst zur Sprache. Doch die leuchtende Kameradschaft jener Urlaubstage, die Geschichten, die sie nachts von Zelt zu Zelt in die Dunkelheit spannen wie silberne Fäden des beginnenden Altweibersommers, das Barfußlaufen im morgenkalten Sand und das Treibenlassen in den Wellen am Anfang und am Ende der langen hellen Tage reichten aus, um großzügige und leichte Träume in Viktoria zu wecken, als hätten ihre Gedanken einen neuen, endlos weiten Raum gefunden.

Nach ihrer Rückkehr lenkte sie sich ab, indem sie das schmutzigkahle Stück Erde vor dem Haus in einen Garten verwandelte. Mit den Blumen pflanzte sie ihre jungen Träume, die über die Jahre unverrückbar tiefe Wurzeln schlugen, ungeniert wuchsen und Ableger ins Leben trieben. Erst nach einiger Zeit bemerkte Viktoria, dass sie nur blaue Blüten für ihre Beete ausgewählt hatte. Sie beließ es so, weil die ruhige Kühle, die davon ausging, ihr wohl tat und die Erinnerung an Jonas und den Meersommer sich darin wohl zu fühlen schien. Am Ende waren alle Farben des Himmels hier zu Hause.

Es hatte noch Männer gegeben in ihrem Leben seitdem. Der eine hatte ihr eine rote Rose geschenkt und eigenhändig neben den Rittersporn gepflanzt, doch nach wenigen Jahren hatte Viktoria sie aus dem Garten verbannt. Die Farbe war ihr zu laut und blieb fremd. Später überreichte ihr ein Anderer einen Goldregen, dem sie auch eine Weile einen Platz gewährte. Doch dann wurde ihr das Gelb zu erdrückend und sie trennte sich auch davon.

Für Viktoria verlor eine Zeit nicht ihre Gültigkeit, nur weil sie längst vorbei war. Jonas blieb so wirklich, wie er jemals gewesen war. Ja, in letzter Zeit hatte sie sogar bemerkt, dass er mit ihr gemeinsam alterte. Er saß ein wenig gebeugter auf dem Stuhl, und wenn die Sonne tief stand, glänzte das weiße Haar an seinen Schläfen. Das Licht warf auch kleine Schatten in seinem Gesicht wenn es die Fältchen um seine Augen fand. Es war gut so; so wurden Jonas und Viktoria sich nicht fremder.

Allerdings sah er ihr nie direkt in die Augen. Sein Blick ging immer ein wenig an ihr vorbei, in die Weite über die Hecke hinweg in die Welt draußen. Sie nahm an, dass er sie nicht so sah wie sie ihn.

Doch die Bienen summten im Sommerflieder, und zusammen mit dem Plätschern des Brunnens klang es wie leises Rauschen von altem Wind und fernen Wellen. Viktoria setzte sich ins Gras, um Jonas nicht von seinem Stuhl zu verdrängen. Gegen den Apfelbaum gelehnt, schlief sie ein. In der warmen Dämmerung sprach Jonas zu ihr, und die Menschen auf der Straße gingen langsamer, denn es war ihnen als hätten sie ein Flüstern vernommen.

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Patricia Koelle
Viktorias blauer Garten
Drei Liebesgeschichten

eBook Amazon Kindle

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Hannas Feiertage

Sonnenuntergang am Meer

Hannas Feiertage

© Patricia Koelle

Sonnenuntergang am Meer

Auf dieser Ferienreise war mir der Nachthimmel zum ersten Mal fremd. Der Große Wagen, die Kassiopeia, der Schwan: kein Sternbild war dort, wohin es in meiner Welt gehörte. Dafür erklärte Vater mir das Kreuz des Südens. Es erschien mir großartig und unwirklich hell über den struppigen Palmwipfeln. Die Milchstraße brannte sich einen Weg durch ein so unbekannt tiefes Schwarz, dass ich kaum zu atmen wagte. Mir war, als hätte jemand die Erde umgedreht wie eine Eieruhr und ich wäre als ein Sandkorn in das andere Teil gestürzt.
Es war Oktober, und zuhause war alles klar rot und gelb. Hier aber flossen neue Farben weich ineinander, überschwänglich und zahllos, als wäre ich mitten in Omas Seidenschal gelandet.
Der Strand war wie aus heißem Licht und das Meer gleichzeitig warm und kühl. Das Wasser glühte in einem Ton zwischen Türkis und Smaragd, den ich noch nie gesehen hatte, mit dunklen Flecken aus Seegraswiesen. Über die Dünen zogen sich Ranken voll hellblauer Trichterblüten, und irgendwo in dem Gewirr dröhnte ein Zikadenorchester in einem Rhythmus, der meinen Herzschlag aufnahm als gehörte ich in dieses Land.
Wolken türmten sich hier nur morgens und abends, dann aber gewaltig. Dazwischen spann sich in hohem Bogen ein gleißender Tag von dreiunddreißig Grad im Schatten. Meinen Vater zog es zu seinen Büchern und der gnadenlos eisigen Klimaanlage in das Hotel, meine Mutter in den Schatten eines zotteligen Sonnenschirms aus Stroh. Ich saß daneben, müde vom Schwimmen, und steckte ein Mosaik aus glänzenden eiförmigen Samen in den Sand. Die Samen hatte ich unter einem Baum mit tellergroßen Blättern gefunden.
Aus dem weiten Staunen kam ich hier nicht mehr heraus, es war als wäre diese eine Woche endlos, weil so unglaublich viel darin war.
Es waren nicht viele Touristen am Strand, aber diejenigen, die in unserer Nähe auf ihren Handtüchern lagen, hatten Kopfhörer auf den Ohren und bohrten mit den Augen Löcher in den Himmel, dösten vor sich hin oder blätterten gelangweilt in einer Zeitschrift.
Am Flutsaum in der Ferne bewegte sich ein greller Farbklecks. Als er uns näher kam, stellte er sich als ein feuerwehrfarbener Bikini heraus, in dem eine kleine, alte Dame steckte. Durch ihre weißen Haare zog sich eine ebenfalls feuerwehrfarbene Strähne und hinter ihrem rechten Ohr wippte eine große violette Blüte. Sie ging direkt auf uns zu, mit einem Lächeln weit wie der Horizont.
„Frohe Ostern!“ sagte sie.
Es war immer noch Oktober, auch wenn wir uns auf der anderen Hälfte der Erde befanden.
Meine Mutter zuckte nicht mit der Wimper.
„Fröhliche Weihnachten“, erwiderte sie heiter.
Die kleine alte Dame lachte auf. Es klang silbern und leicht wie das Windspiel, das zuhause am Apfelbaum hing.
Begeistert streckte sie meiner Mutter die Hand hin. „Hanna. Hanna Warlich. Ich habe Sie im Restaurant belauscht, daher wusste ich, dass Sie auch deutsch sind.“
„Kringe“, sagte meine Mutter, die nichts davon hielt, von Fremden beim Vornamen genannt zu werden.
„Nina“, sagte ich.
„Darf ich?“ fragte Hanna Warlich und setzte sich zu uns, ohne auf eine Antwort zu warten.
„Wissen Sie“, sagte sie, „ich bin vor einigen Jahren hierher gezogen. Hier fühle ich mich viel lebendiger als ich alt bin. So bunt. Jeder Tag ist ein Wunder und kribbelt in mir wie Brause. Jede feine Muschel, jede glühende Blume, jedes rauschende Gewitter, alles ist beglückend.“ Sie fischte eine Reiherfeder aus dem Sand und zeichnete damit Muster um unser Handtuch herum.
Vögel Reiher Graureiher Reiher gab es einige am Strand. Stumm standen sie im flachen glasklaren Wasser und warteten auf Fische. Ihre Füße waren wie riesige Seesterne. Wenn ich mich ihnen näherte, hoben sie beiläufig den Schnabel und sahen mir in die Augen. Sie waren fast genauso groß wie ich mit meinen zwölf Jahren und wirkten so würdevoll, dass ich fast meinte, mich vor ihnen verbeugen zu müssen. Komischerweise hatte ich bei Hanna, klein und runzlig wie sie war, ein ähnliches Gefühl.
„Und dann sehe ich die Touristen“, sagte Hanna leise, wie zu sich selbst. „Sie nehmen den weiten Weg auf sich. Sie zahlen mehr, als sie sich leisten können, um einmal in der Karibik gewesen zu sein. Die ersten drei Tage sehen sie mit großen Augen um sich. Danach sitzen sie den Rest der Zeit am Pool herum oder an der Bar. Oder sie drehen sich auf ihren Liegestühlen und Handtüchern in der Sonne wie Brathähnchen am Spieß und interessieren sich nur dafür, ob die Sonnencreme gleichmäßig verteilt ist und was wohl in der deutschen Zeitung steht. Sie haben einen flachen Blick wie Kühe beim Wiederkäuen. Drei Tage sind sie lebendig, und dann zerknüllen sie die Zeit und werfen sie weg wie ein Butterbrotpapier.“
Hanna ließ die Feder fallen und richtete sich auf. „Sie nicht“, sagte sie schnell und entschuldigend. „Ihre Familie ist anders, dass habe ich gleich gesehen.“
„Aber warum sagen Sie ‚Frohe Ostern‘, wenn es doch Herbst ist?“ wollte ich endlich wissen.
Sie richtete ihren blanken Eichhörnchenblick auf mich. „Weil sie dann aufwachen“, erklärte sie und ihre Augenwinkel schlugen verschmitzte Falten wie die winzigen Wellen, die in der aufkommenden Nachmittagsbrise auf den Strand liefen.
„Weißt Du, wie es ist, wenn zuhause von Sommerzeit auf Winterzeit umgestellt wird, oder umgekehrt? Die Menschen werden ein wenig durcheinander gebracht. Plötzlich sehen sie wieder bewusst die Sonne untergehen, sehen morgens wach und neugierig aus dem Fenster, überlegen, wann sie essen und wann sie ins Bett gehen sollen, nur weil alles von einer Minute zur anderen ein bisschen anders ist, als sie es gewöhnt sind.“
Ja, das kannte ich. Ich fand es jedes Mal verwirrend und wusste nie so richtig, ob der Tag nun vor- oder zurückgedreht worden war. Im Sommer bedeutete es jedenfalls, dass wir länger draußen spielen durften, als ob es plötzlich mehr Zeit gäbe, so wie die Limonadengläser ja auch viel größer waren als die für den Wintertee.
„Ja“ fuhr Hanna fort, „und wenn ich hier im Herbst am Strand entlang gehe und zu den Menschen „Frohe Ostern“ sage, ist es ähnlich. Sie schrecken auf, sind verwirrt, fangen an, nachzudenken. Sie müssen sich neu orientieren, vergewissern, ob sie auch wirklich da sind in der Zeit, wo sie zu sein glaubten. Sie sehen sich wieder um. Sie lächeln. Sie entdecken Dinge. Es ist, als hätte man sie kurz hochgehoben, durchgeschüttelt, und aufrechter wieder auf ihre Füße gestellt.“
Sie schwieg einen Moment. „Manche halten mich natürlich auch für verrückt. Oder senil“, sagte sie und grinste. „Sie finden es peinlich oder komisch. Es macht mir nichts aus. Auch sie wachen kurz auf. Nur weil ich ein Blinzeln lang ihre Zeit durcheinander gewirbelt habe. Auch sie lächeln. Und gehen ein wenig anders weiter.“
Auf dem Weg zum Hotel fixierte meine Mutter eine Familie von Deutschen, die alle ein Kaugummi im Mund und den Blick auf eine Zeitung oder ein Comicheft gesenkt hatten. „Frohe Ostern!“ sagte sie laut.
Die vier zuckten zusammen und sahen hoch. Wie die Flut stieg erst Verblüffung, dann ein Lächeln in ihren Gesichtern auf. Sie sahen erst meiner Mutter hinterher, dann auf das Meer. „Schau mal, Lisa“, sagte der Vater „was für ein Sonnenuntergang.“ „Oh, da ist gerade ein großer Fisch hochgesprungen!“ rief einer der Jungen aufgeregt.
„Weißt Du was“, sagte meine Mutter, „Frau Warlich hat recht.“
In der Nacht träumte ich von Hanna. Sie rührte mit einem riesigen steinernen Kochlöffel am Himmel die Zeit um, so dass die Sterne sich anders ordneten und das Kreuz des Südens sich zu einem Kreis formte.
Hanna Warlich war nicht aufdringlich. Meist winkte sie uns nur von ferne zu. Jeden Tag sahen wir sie am Flutsaum entlang wandern, wie die flinken kleinen Vögel, die dort herumsausten und nach Krebsen suchten. Hinter ihr ging immer eine Bewegung durch die Menschen, so als wäre eine frische Brise den Strand entlang gehuscht und hätte die zähe Trägheit mit sich genommen.
Heute ist die offene Weite zerbrochen an den Hochhäusern voller Reisender, doch damals hatte der Strand viel Platz für das große Lächeln einer kleinen alten Dame, die mit zwei Worten die Zeit verdrehte und die Menschen anhalten und hinsehen ließ.
Einmal hockte sie sich kurz neben uns. „Können Sie finnisch? Oder eine andere seltenere Sprache?“ fragte sie.
„Leider nicht. Warum?“ fragte Mutter.
„Ich möchte zu allen ‚Frohe Ostern‘ sagen können. Viele können Englisch. Mit ‚Happy Easter‘ geht es meistens. Aber es gibt die, die mich gar nicht verstehen. Sie lächeln auch, freundlich und hilflos, aber das ist nicht die Sorte Lächeln, die ich sammle. Es weckt nicht. Macht nichts“, sagte sie fröhlich und stand auf, „in sieben Sprachen kann ich es schon, und es werden Menschen kommen, die es mir in anderen beibringen können. Habt noch einen hellen Tag!“ Weg war sie.
Als unsere Woche mit dem endlosen hohen südlichen Himmel und dem glasklaren Meer voll zerbrechlicher Schönheit zu Ende war, kam Hanna an unseren Frühstückstisch, um sich von uns zu verabschieden. Die Klimaanlage und die Wehmut ließen uns trotz Reisejacken frösteln. Hanna trug ein apfelgrünes Minikleid und einen Sombrero, unter dem ihre fünf Enkel Schutz gefunden hätten, und sie hatte nicht einmal eine Gänsehaut.
„Es war so schön, dass wir uns begegnet sind“, sagte sie. „Bleibt wach!“
Ein Bus fuhr klappernd vor und wir stiegen in seinen hohlen Bauch. Hanna stand am Straßenrand und winkte. Sie sah sehr klein aus.
Meine Mutter kurbelte das Fenster herunter und brüllte über das Motordonnern hinweg: „Ein frohes Neues Jahr!“
Alle setzten sich gerader und alle verschlafenen Köpfe drehten sich erst fragend zu ihr um und sahen dann neugierig aus dem Fenster. Mutter rückte sich in ihrem Sitz zurecht und lächelte zufrieden.
Im Rückfenster sah ich den Sombrero auf dem Weg zum Strand.

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Patricia Koelle
Flaschenpost vom Meer
Strandgeschichten

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Ein verlorener Tag

Amsel

Ein verlorener Tag

© Patricia Koelle

Vögel Vogelfotos AmselAmselgesang weckt Tina in einen hellwarmen Märztag hinein. Ihr erster Blick fängt Nikos Profil neben ihr auf dem Kissen, der Umriss seiner Nase wie ein Ausrufezeichen hinter dem Morgen. Jedes Mal ist sie dankbar für diesen Anblick. Man kann nie wissen, wie oft er noch da sein wird. Es ist nicht selbstverständlich, dass man alles zu zweit beginnen kann, vor allem einen ganz normalen Tag mit Haaren im Waschbecken, verlorenen Pantoffeln und Brötchen mit Erdbeermarmelade. Dass jemand da ist, der einem einen Kuss auf den Nacken setzt und den Gürtel in der hinteren Schlaufe gerade rückt, wenn der sich mal wieder verdreht hat.

Dass Niko sie anlächelt, nur so, wenn sie sich begegnen, auch wenn sie nur eine Kaffeetasse in die Küche getragen hat und höchstens zwanzig Sekunden aus dem Zimmer war. Dass er in der Gärtnerei im selben Augenblick nach genau demselben Primeltopf greift. Dass er irgendwann das Bettenbeziehen übernommen hat, ohne je ein Wort darüber zu verlieren, weil er weiß, dass sie die Knopflöcher an den Bettbezügen zu klein findet und nicht leiden kann.

Dafür saugt sie den Schmutz weg, den er jeden Tag ins Schlafzimmer bringt, weil er in all ihren elf gemeinsamen Jahren erst dort seine Straßenschuhe gegen die Pantoffeln tauscht und sich dann über die Spuren auf dem Teppich wundert. Ohne diese Erdkrümel würde Tina etwas fehlen. An den Krümeln sieht sie, dass die Tage vergehen wie sie sollten, mit Niko und viel Leben darin.

Dieser Märztag ist ein Sonntag, kein Wecker und keine Arbeit reißt sie auseinander. Tina kann warten, bis auch Nikos Blick aufwacht und Niko sich zu ihr dreht und den Arm um sie legt und sie sich aneinander wärmen, ehe sie dem Tag entgegengehen. Sie freuen sich auf diesen Tag, nicht weil etwas Besonderes in ihm zu erwarten ist, sondern weil es ihn gibt und er ihnen gehört und er der Anfang vom Frühling sein könnte, da die Amsel so nachdrücklich singt.

Am Frühstückstisch teilen sie sich die Zeitung und das Staunen über den schnellen Wechsel von späten Schneeschauern und warmer Sonne vor dem Fenster. Sie stehen an die Heizung gelehnt und zählen die Krokusse draußen im neuen Beet, überlegen, wo sie in diesem Jahr die Sonnenblumen pflanzen sollen, damit die Schnecken nicht wieder alle auffressen.

Dann trägt Niko den Mülleimer hinaus, und als er wiederkommt, ist alles anders.

„Wie kann dir so was passieren? Wie kann man nur so dumm sein?“, schreit er sie an. Er hält ihr einen Brief vor, den er draußen im Laub unter dem Apfelbaum gefunden hat. Ein wenig feucht ist er, eine Spur Erde haftet an der Ecke neben der Briefmarke, sonst ist er unbeschädigt.

Tina fühlt, wie ein Riss durch alles geht und der Boden unter ihren Füßen ins Rutschen gerät. Sie weiß, dass Niko ein wenig jähzornig ist, immer dann, wenn sie es am wenigsten erwartet. Ebenso weiß er, dass sie manchmal unordentlich ist oder ihre Gedanken ganz woanders sind als sie selbst.

Das ist bei ihnen beiden eben so, so wie das junge Gras grün ist und die Ostereier bunt sind. Sie haben versucht sich zu ändern, aber es gelingt nur ansatzweise, verschwindet auch wieder, so wie die neue Farbe am Gartenzaun sich nach einer Weile löst.

Der Brief ist ein Bankbrief, nicht sehr wichtig, aber eben auch nicht ganz unwichtig. Er muss Tina vor ein paar Tagen aus der Hand geflattert sein, als es so stürmisch war und sie schnell wieder ins Haus gerannt ist mit dem dicken Stapel Post aus dem Kasten am Tor. Er wird in der Zeitung gesteckt haben und ist herausgerutscht und für den Wind zum Spielzeug geworden, der das blaue Kuvert dann achtlos unter dem Apfelbaum liegen ließ. Jetzt hat er es in einer neuen Laune Niko direkt vor die Füße geweht. Natürlich hätte es auch für immer verschwunden bleiben können oder einem Unbefugten in die Hände geraten.

Tina entschuldigt sich, kann es aber nicht lassen anzumerken, dass Niko das hätte auch passieren können, wenn er derjenige wäre, der die Post hereinholt. Die Worte lassen sich einfach nicht verschlucken, sie witschen aus ihr heraus, ehe sie sie festhalten kann. Sie nehmen nur noch mehr Licht aus dem Morgen.

Er wäre nie so blöd, sagt er, weil seine Wut, von der er gar nicht weiß, woher sie kommt, noch keine Zeit hatte, wieder klein zu werden. Er weiß ja, dass diese Wut viel größer ist als der alberne Brief, und er ärgert sich über sich selbst. Darum ist es auch nicht gut, dass Tina, in die von seiner Wut etwas hinübergeschwappt ist, ihn einen Macho nennt. Das ist ungerecht, sie wissen es beide, aber auch er war ungerecht.

Eigentlich ist es ihnen schon wieder egal, der Brief und der Ärger sind so winzig, wenn man sie auf die Waage legt, gegen das, was sie sonst haben, gegen die Zärtlichkeit nämlich, das blinde Verstehen, die gemeinsamen Wege, die Erinnerungen und die Hoffnungen.

Aber die Wut ist langsamer und noch übrig, schwappt in ihnen und um sie herum wie eine Flutwelle aus zähem Schlamm und weiß nicht, wohin sie ablaufen soll. Aus der Wut wird Schweigen, bodenloses, hässliches Schweigen, und ein dumpfer Schmerz wie eine Prellung, als wären sie mit dem Gesicht gegen eine geschlossene Glastür gerannt, jeder von einer Seite.

Er dreht im Wohnzimmer die Musik auf volle Lautstärke und sagt, er wolle seine Ruhe haben.

Sie geht in ihr Zimmer am anderen Ende vom Haus, sitzt eine Weile ganz still. Als sie Angst bekommt zu zerspringen, wenn sie noch länger auf ihren Atem und die Leere lauscht, fängt sie an zu bügeln. Erst ihre Blusen, dann seine Hemden, aber die Hemden machen sie traurig, weil sie ihn darin sieht und spürt, und dabei er ist doch so erschreckend weit weg.

Als die Hemden ein säuberlicher Stapel sind, viel glatter als ihre Gedanken, geht sie nach Niko sehen, lugt vorsichtig um die Ecke. Ihre Wut ist verdampft, zusammen mit dem Wasser aus dem Bügeleisen. Jetzt ist da noch die Traurigkeit, die aber schwer wiegt, so schwer, dass sie sie keine Sekunde länger allein tragen mag.

Niko sieht sie, ohne den Kopf zu wenden. Er macht keinen Schritt, dreht nur die Musik noch lauter.

Später sieht Niko seinerseits nach Tina, wirft einen behutsamen Blick in ihre Tür. Sie wendet den Blick auf die Bügelwäsche und ihm den Rücken zu.

Er holt sich eine Strickjacke aus dem Winterschrank, ihm ist unerklärlich kalt.

Irgendwann fragt sie ihn, ob er essen wolle, und bekommt nur ein Knurren. Sie kocht wie immer, klammert sich an der Gewohnheit fest und am Löffel. Sie ruft, ohne Antwort. Isst drei Bissen ohne Appetit und stellt für ihn einen sorgsam zugedeckten Teller auf die Wärmeplatte, gefüllt bis zum Rand und mit einer Blume aus Ei und Petersilie dekoriert.

Dann geht sie in den Garten, zieht das erste Unkraut heraus. Niko hat die Vögel gefüttert, den ganzen Winter lang, und Tina hat auf dem Sofa auf seinem Schoß gesessen und sie beobachtet. Die Kerne, die heruntergefallen sind, werden jetzt zu kleinen grünen Versuchen, aber sie kann es ihnen nicht erlauben, denn an diese Stelle sollen ja die Sonnenblumen. Tina kann sich nicht konzentrieren, sie wartet auf Nikos Schritt, und darum bleiben manche von den kleinen grünen Versuchen stehen und zielen weiter Richtung Himmel.

Als es zu regnen beginnt und ein scharfer Wind aufkommt, ist sie ganz sicher, dass Niko jetzt kommt und sie hereinholt oder ihr wenigstens den Regenmantel bringt, aber als sie durchs Fenster schielt, schaltet er zwischen Fußball und dem Wetterbericht hin und her.

Sie macht einen Schritt ins Haus und dann doch wieder zurück. Drin ist ihr, als wäre sie in die alte Presse geraten, in der sie im letzten Jahr Herbstblätter getrocknet hat, um Bilder daraus zu machen.

Die Straße hinunter gibt es einen schmalen Wald und einen langsamen Bach, der sich in die Erde gegraben hat. Die Sonne hat den Schauer wieder verdrängt. Tina hockt sich an den steilen Abhang und sieht auf das Glitzern im Wasser. Sie wickelt sich in ihre Arme, hofft, dass die Sonne, die schon tief Richtung Abend gerutscht ist, den bitteren Raureif in ihr verwischt.

„Alles in Ordnung?“, fragt ein älterer Mann, der mit seinem Schäferhund vorbeigeht und leicht und sorglos aussieht.

Sie sieht zu ihm auf, weiß nicht, was sie antworten soll. Kann doch nicht ja sagen, es wäre so ungeheuer gelogen. „Die Weidenkätzchen blühen schon“, sagt sie schließlich, weil es die Wahrheit ist.

„Ja, endlich Frühling“, stimmt er zu und geht weiter.

Aber sie will den Frühling da haben, wo er hingehört, zwischen Niko und ihr soll er wieder sein, jetzt sofort. Was soll sie sonst machen mit ihrer Sehnsucht, die unerträglich, atemlos und wundervoll zugleich ist. Sie wird zu Niko gehen, ob er möchte oder nicht. Die Sonne fällt schon hinter die Häuser. Wenn sie sich nicht wiederhaben, ehe es Nacht wird, wer weiß, ob sie ihn je findet.

Doch sie kann sich auf einmal nicht rühren, etwas lähmt sie, etwas in dem Abendschatten, der über den Bach kriecht, immer näher kommt. Es ist eine Trauer, die viel größer und dunkler ist als die Traurigkeit von vorhin. Sie spürt, dass jemand gestorben ist. Oder etwas.

Der alte Herr mit Hund kommt von seinem Spaziergang zurück. Der Hund ist nass, müde und zufrieden.

„Sie sitzen ja immer noch da“, sagt der Mann und setzt sich auf einen Stein, ein Stückchen entfernt von ihr. Der Hund legt sich daneben. Beide sehen Tina sie sich an, mit einer freundlichen Frage in den Augen.

Tina holt tief Luft. „Wir haben uns heute früh gestritten, mein Mann und ich“, sagt sie, als reiche das als Erklärung.

„Und Sie sind sehr traurig“, sagt der alte Herr. Der Hund wedelt einmal mit dem Schwanz.

„Schlimmer. Es ist ein Gefühl, als wäre jemand gestorben“, sagt Tina.

„Ja“, sagt der alte Herr. „Es ist der Tag. Dieser Tag, der euch beiden gehört hätte, ist gestorben, ohne Licht darin. Ihr habt ihn nicht gelebt. Habt ihn einfach weggeworfen.“ Seine Stimme ist leise, aber deutlich, und jedes Wort bohrt schmerzlich in Tina herum. „Andere Dinge, die man verliert, kann man wiederfinden. Diesen Tag niemals. Du kannst um die Welt reisen und wirst ihn niemals einholen. Er ist für immer verloren.“

Der Hund hebt den Kopf und knurrt einmal.

„Du kannst ihn durch keinen anderen ersetzen“, fährt sein Herr unerbittlich fort. „Egal, was ihr anstellt. Ihr könnt noch vierzig Jahre miteinander aufwachen und jeden Tag mit einem Lächeln beginnen, ihn Hand in Hand verbringen und abends mit Kerzenlicht und einem langen Kuss beenden, aber diesen hier werdet ihr nie wiederbekommen. Wenn ihr eines Tages auseinandergehen müsst, wird er in eurer Geschichte fehlen. Ein Loch darin sein.“

Tina scharrt nervös mit der Hand in der feuchten Erde, ohne es zu merken.

„Seht euch vor“, sagt der alte Herr und steht mühsam auf, „dass es nicht zu viele davon werden.“ Er stützt sich einen Moment auf seinen Hund, dann gehen beide auf den Weg zurück. Jetzt erst fällt Tina auf, dass er wirklich sehr alt ist. Sein Rücken ist gebeugt und sein Atem kurz. „Und übrigens“, sagt er noch, „Jemand anderes hätte diesen Tag vielleicht dringend gebraucht.“ Dann verschlucken ihn die Schatten.

Tinas Trauer bleibt und mischt sich mit Entsetzen. Sie blickt hinunter und kann in der Dämmerung gerade noch erkennen, dass ihre Hand einen Hügel wie ein kleines Grab gescharrt hat. Sie steckt zwei winzige Äste zu einem Kreuz darüber und legt ein Gänseblümchen darauf, das seine Blütenblätter in der feuchten Abendluft schon geschlossen hat.

Dann springt sie auf und rennt dahin, wo Niko ihr schon mit offenen Armen entgegeneilt und sie so fest und lange hält, dass sie weiß, es ist ihnen nichts verloren gegangen.

Außer diesem Märztag.

Noch lange danach huscht der für immer verlorene Tag und ihr Erschrecken darüber durch Tinas Leben wie ein Gespenst. In keinem Frühjahr pflanzt sie Sonnenblumen, ohne an die Samen zu denken, die sie an jenem Tag nicht mit Niko gesät hat. Wenn sie Nikos Hemden bügelt, flackert eine Trauer in ihr auf. Und wenn sie gekocht hat, freut sie sich darüber, dass sie nicht allein am Tisch sitzt.

Sie streiten sich weiterhin hin und wieder, über alle Jahrzehnte hinweg, denn Niko ist ein wenig jähzornig und Tina unordentlich und mit ihren Gedanken gelegentlich ganz woanders, und das ändert sich nicht, so wie der Gartenzaun an derselben Stelle bleibt, egal welchen Anstrich er bekommt.

Und doch gehen sie sorgsamer mit der Zeit um und morden nie wieder einen ganzen Tag, der ihnen anvertraut worden ist.

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FrühlingsgeschichtenPatricia Koelle
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Amsel
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Des Königs Osterei

Osterei

Des Königs Osterei

© Patricia Koelle

Ostern OstereiLeo Klinger staubte das alte Nähkästchen sorgfältig ab, ehe er es auf den Tisch mit der filigranen Einlegearbeit stellte. Es passte gut zu dem zierlichen Sofa mit dem honigfarbenen Samtbezug.

Er betrachtete jeden Gegenstand in seinem Antiquitätenladen als einen guten Bekannten, dem man mit Zuneigung und Respekt entgegenkommt. Er hatte auch Freunde unter ihnen. Zum Beispiel die achteckige Teekanne mit dem feinen blauen Muster. Die gesamte Porzellansammlung lag ihm besonders am Herzen. Es schmerzte ihn jedes Mal, wenn er etwas davon verkaufte.

Das lag am Ei des bulgarischen Königs.

Als Leo und sein Bruder Karl Kinder waren, hatten sie sofort nach Weihnachten angefangen, auf Ostern zu warten. Die Geschenke waren nicht der Grund. Es gab bei ihnen nicht viel zu Weihnachten, und zu Ostern schon gar nicht. Leos Vater arbeitete als technischer Zeichner in einem Architekturbüro. Er machte seine Arbeit gewissenhaft und war einer der genauesten, aber er war doch nur einer von vielen, und manchmal gab es keine Aufträge. Er verdiente nur wenig. Oft war er zuhause und zeichnete Traumhäuser für die Jungen. Er konnte gut zeichnen und malte auch Gardinen an die Fenster und Blumen in die Gärten. „Ich tue das nur, damit ihr lernt, wie man perspektivisch zeichnet“, sagte er.

Sie wussten, dass sie nie ein Haus besitzen würden, aber sie hatten Freude daran, die ausgedachten Häuser immer wieder anders zu bauen, einzurichten und Apfelbäume mit Schaukeln daran in die Gärten zu malen. Es gab Vaterhäuser, Leohäuser und Karlhäuser, und manchmal auch Mamahäuser, aber Mama war meistens krank, und sie starb, als die Jungen noch sehr klein waren. Es wurde nicht viel darüber geredet. Das Leben ging weiter. Vater Klinger war ein sachlicher Mann und lebte ebenso genau wie er zeichnete. Über Gefühle sprach er nicht. Außer den Traumhäusern hatte er kaum etwas mit Leo und Karl gemeinsam, aber er sorgte gut für sie, jedenfalls so gut es das Konto erlaubte.

Und auch Weihnachten und Ostern gab es weiterhin.

Für kleine Jungen liegt eine Ewigkeit zwischen Weihnachten und Ostern. Aber wenn der Schnee zum Schlittenfahren sich in grauen Matsch verwandelte, begannen sie, jeden Morgen, noch im Schlafanzug und barfüßig, als Allererstes einen Blick auf den Esszimmertisch zu werfen. Irgendwann kam jedes Jahr der Morgen, an dem das Osterei des bulgarischen Königs mitten auf dem Tisch stand. Darauf konnten sie sich verlassen.

Es war aus Porzellan und ungefähr so groß wie eine Teekanne. Nur, dass es eben ein Ei war. Es lag quer und bestand aus zwei Hälften. Die Untere hatte einen Fuß mit einer gewellten Kante. Die Obere war ein Deckel, den sie mit beiden Händen hochheben mussten, so groß war das Ei. Dabei entstand ein bestimmter Ton: kein Klappern, kein Klirren, sondern ein würdevolles Geräusch. Leo würde es sein Leben lang nicht vergessen. Es startete immer eine kleine Aufregung im Bauch. Auf dem Deckel war ein Stückchen hellgrüne Wiese gemalt, auf der ein Hahn und Hühner herumliefen. Um den Rand, und auch um den Rand des Fußes, zog sich ein Band aus glühendem Dunkelblau mit feinen goldenen Mustern.

Leo und Karl wurden in der Schule oft ausgelacht, nicht nur weil sie Hosen trugen, die um Einiges zu kurz waren, und weil ihre Schulmappen längst nicht mehr modern waren. Aber sie schwiegen und nickten einander zu, weil der eine wusste, was der andere dachte. Sie hatten trotz allem das Ei des bulgarischen Königs zu Hause. Keiner aus ihrer Klasse besaß so etwas. Sie verrieten nichts davon, denn es hätte ihnen sowieso niemand geglaubt. Ganz sicher wäre der Zauber zerlacht worden. Aber die Tatsache, dass es das Ei gab, tröstete sie. Auch in abgetragenen Hosen war man kein Nichts, wenn man so etwas besaß.

Es war die Oma, die ihnen die Geschichte erzählt hatte, denn der Vater war kein Mann mit Geschichten. Wenn die Oma kam, war alles anders, denn im Gegensatz zum Vater hatte sie ein Lächeln und Lob und Umarmungen zu verschenken. Als die Oma ein kleines Mädchen war, so berichtete sie, wohnte sie einige Zeit am Hof des bulgarischen Königs, denn ihr Vater, also Leo und Karls Urgroßvater, war dort für den Fuhrpark zuständig. Er kümmerte sich um die Autos und fuhr auch den König und den Kronprinzen zu ihren wichtigen Terminen. „Und weil die Autos damals noch keine eingebauten Uhren hatten, montierte der Urgroßvater eine große und eigenartige Uhr aus einer Eisenbahn neben dem Lenkrad, so dass er trotzdem immer pünktlich war“, erzählte die Oma. Weil er so pünktlich war, war der König sehr zufrieden mit ihm. Auch der Kronprinz mochte ihn, da der Urgroßvater ein Mann war, der ein herzliches und bereitwilliges Lachen hatte. Darum bekam die Familie an Ostern vom König ein Ei aus Porzellan geschenkt. Gewiss waren auch einige Leckereien darin gewesen, doch an die konnte sich niemand erinnern. Fest stand, dass ausgerechnet das große, zerbrechliche Porzellanei des bulgarischen Königs unzählige Umzüge, Omas Kindheit, zwei Kriege, eine Flucht, und schließlich Vaters Kindheit unbeschadet überstanden hatte und nun auch Leos und Karls klebrigen Fingern zur Verfügung stand.

Wenn es an Ostern auf dem Tisch erschien, waren immer ein paar Zuckereier und Schokoladenhasen darin. Leo und Karl freuten sich darüber, aber es waren nicht die Süßigkeiten, die den Zauber ausmachten. Es war die Tatsache, dass bei ihnen das Osterei des Königs auf dem Tisch stand und sie es benutzen durften, als sei das selbstverständlich. Es bedeutete, dass Märchen wirklich sein können, auch wenn man aus seinen Hosen herausgewachsen ist und neue zu teuer sind. Es bedeutete vor allem, dass Vater ihnen zutraute, mit dieser Kostbarkeit umzugehen. Beinahe war es, als würde er ihnen damit einmal sagen, dass er sie doch gern hatte und dass er unglaublicherweise stolz genug auf sie war, um sie aus dem Ei des Königs naschen zu lassen. Leo dachte lange Zeit, der Frühling sei in dem Ei. Dass alle Blüten aufgingen und der zartgrüne Schleier, der ihn jedes Jahr zum Platzen glücklich machte, genau in dem Augenblick über die Bäume flog, wenn sie den Porzellandeckel das erste Mal im Jahr öffneten.

Und darum war jetzt, nach Jahrzehnten, die Porzellansammlung für Leo immer noch das Liebste in seinem Antiquitätenladen. Er hatte sich das Geschäft ganz allein erarbeitet, hatte gejobbt und gespart und gelernt und war in der Nachbarschaft auf Dachböden herumgestiegen, bis er in einem winzigen Zimmer das erste Mal geheimnisvolle Schränkchen und zart bemalte Mokkatassen verkaufte. Jetzt, nach vierundzwanzig Jahren, hatte sein Name einen guten Ruf, und die Geschäftsräume an der Lilienthalstraße konnten sich sehen lassen. Sein Vater hatte nie etwas dazu gesagt. Zweimal war er im Laden gewesen und hatte die Preisschilder betrachtet. „Ganz schön teuer“, hatte er gemurmelt.

Karl war Architekt geworden. Leo hatte nie herausgefunden, ob das wirklich Karls Traum gewesen war, oder ob er dem Vater etwas hatte beweisen wollen. Karl lachte ohnehin morgens über die Zeitung, mittags über Nachbars Hund und abends über die Wurst auf dem Brot. Schwer zu sagen, ob ihm etwas mehr oder weniger Spaß machte. Der Vater sagte jedenfalls auch dazu nichts, und Karl nahm ein Angebot aus Philadelphia an. Leo hatte ihn seit fünf Jahren nicht gesehen, allerdings telefonierten sie einmal im Monat. Im letzten Telefonat hatten sie ausgemacht, dass Karl nicht nach Deutschland kommen musste, nur um bei der Auflösung der Wohnung zu helfen. „Du bist schließlich Profi“, hatte Karl gesagt.

Der Vater hatte ganz von sich aus beschlossen, die Wohnung aufzugeben. Die Treppen fielen ihm längst zu schwer, der Umzug hingegen nicht, denn er war ja kein sentimentaler Mann. Er war in ein kleines Zimmer in einem Seniorenhaus gezogen und hatte nur mitgenommen, was er brauchte. „Alles andere lasse ich einfach in der Wohnung“, hatte er zu Leo gesagt, „und du kümmerst Dich dann darum, Junge, nicht wahr?“

Darum schloss Leo jetzt den Laden ab, mitten an einem Donnerstag. Es war Ende August, und die Hitze lag in den Straßen und in der verlassenen Wohnung, als könne man sie mit einem Kochlöffel umrühren. Staubiges Sonnenlicht fiel durch die Spalten in den heruntergelassenen Jalousien. Eine gefangene Hummel brummte verzweifelt in einem Lampenschirm und es roch nach alten Gardinen und Äpfeln. Leo öffnete die Fenster, obwohl die Luft draußen fast stickiger war als drinnen. Er fing mit dem Schlafzimmer an. Zweifelnd betrachtete er die wenigen Jacken und Hosen, die sein Vater im Schrank gelassen hatte und beschloss dann, dass diese tatsächlich nicht einmal mehr für das Rote Kreuz zu gebrauchen waren. Es fiel ihm dennoch schwer, sie endgültig in den blauen Säcken verschwinden zu lassen, vor allem das karierte Jackett mit den Lederflicken an den Ärmeln. Das hatte sein Vater in der Zeit getragen, als sie noch auf Karopapier die Traumhäuser entworfen hatten. Aber sie war am Saum hoffnungslos ausgefranst und hatte Mottenlöcher, und Leo, der einen ganzen Kopf größer als sein Vater und in den Schultern breiter war, hätte ohnehin nicht hineingepasst. Eine Jacke hängt man sich auch nicht an die Wand. Also verabschiedete er sich schweren Herzens davon. Damals hatten sie noch hin und wieder auf Vaters Knie gesessen oder sich an ihn gelehnt, wenn er die Zeichnungen erklärte, und danach waren Fusseln von dem alten Jackett auf ihren Pullovern gewesen als bliebe die beiläufige Berührung mit ihm noch bei ihnen. Heute trug er ordentliche Anzüge und sie gaben sich bestenfalls die Hand wenn sie sich sahen. Mit Umarmungen wusste keiner von ihnen umzugehen.

Das Bett zerfiel fast zu einem Haufen Staub, als er die Matratze anhob. Es war nur aus Pressspan gewesen. Er zerschlug die Reste behutsam und versenkte die Splitter in einem anderen Sperrmüllsack. Den Schrank wischte er sauber. Er besaß zwar keinen Wert, war aber geräumig und aus solidem Holz. Innen roch er vertraut. Vielleicht, dachte Leo, konnte er ihn im Büro für seine Unterlagen benutzen und so ein Stück Erinnerung in die Zukunft retten. In der Küche waren nur ein paar angeschlagene Teller und Tassen mit Teeflecken, die nicht mehr zu entfernen waren. Er fügte sie dem Sack mit dem Bett zu, ebenso die zwei defekten Kaffeemaschinen; und das war alles, was von den vielen Küchenmahlzeiten übrig geblieben war. Den kleinen Tisch, an dem sie gegessen hatten, hatte der Vater mitgenommen. Wenigstens etwas, dachte Leo, und versteckte die beiden fauligen Äpfel aus dem Kühlschrank in der Erde des Blumenkastens am Fenster. Er konnte sich nicht erinnern, dass jemals Blumen darin gewesen waren.

Blieb noch das Wohnzimmer. Dem Sessel fehlte ein Bein und der größte Teil des Polsters, vom Teppich war nicht viel mehr als das Grundgewebe übrig nach all den Jahren von Männerschritten, die darauf unterwegs gewesen waren. Er rollte ihn zusammen und stellte beides in die Ecke zu den Müllsäcken, die schon dort standen. Morgen würde er alles abholen lassen. Außer ein paar Konzert- und Fußballstarpostern, die die Jungen in ihren jeweiligen Phasen dort angepinnt hatten, waren nie Bilder an den Wänden gewesen. Leo zog ein von Zeit und Feuchtigkeit gewelltes Plakat der Rolling Stones von der Wand und stopfte es in einen der Säcke. Dabei fiel ihm ein Bündel geknickten Karopapiers auf. Er zog es aus dem Sack und strich es glatt.

Die Leohäuser und die Karlhäuser. Vater hatte keinen Grund gesehen, sie aufzuheben. Leo hörte seine Stimme durch den teppichlosen Raum hallen. „Ich wollte doch nur, dass ihr perspektivisch zeichnen lernt. Das könnt ihr ja jetzt.“ Leo suchte nach einer sauberen Plastiktüte und steckte die Zeichnungen sorgfältig ein. Er nahm die verblichenen Gardinen ab und füllte den letzten Sack damit. Blieb nur noch das kleine Wandkabinett, in dem ein paar gute Weingläser und eine Karaffe standen.

Und das Osterei des bulgarischen Königs.

Leo stand eine Weile davor. Vater hatte es nicht mitgenommen. Karl war in Amerika. Dann durfte er es jetzt wohl hüten. Es würde als geheimer unverkäuflicher Höhepunkt der Porzellansammlung in seinem Laden stehen und einen hoffnungsvollen Hauch von Frühling in die Räume tragen.

Behutsam hob er den Deckel, aus Gewohnheit. Ostern war lange vorbei. Doch wenn er seinen Vater zur Osterzeit besucht hatte, waren immer ein paar Zuckereier darin gewesen, extra für ihn. Darauf konnte er sich immer noch verlassen. Der Zauber des Ostereis war eine Sache, die Vater zu geben wusste. Das war die kleine und bedeutsame Stelle im Leben, an der sie sich begegnen konnten. Auch jetzt, an diesem letzten Augustnachmittag in der Wohnung, lagen drei Eier darin, wo auch immer der Vater sie zu dieser Zeit herhatte.

Und ein Zettel.

Leo faltete ihn auseinander. Es war ein alter Einkaufszettel, auf dem etwas von Pulverkaffee und Socken stand. Aber die Notizen waren durchgestrichen, und auf der Rückseite stand:

„Lieber Leo, lieber Karl. Ihr seid immer das Helle und Herzliche und das Lachen in meinem Leben gewesen. Ich bin stolz auf euch, und auch wenn ich es nicht zeigen kann, ich habe euch sehr gern. Vater“

Leo saß noch lange mit dem Zettel in der Hand da. Dann wickelte er das Ei des Königs in einen von Vaters alten Pullovern und steckte es in die Tasche zu den Traumhäusern. Er schloss die Wohnung jetzt ohne Traurigkeit ab. Er fühlte sich wie ein König. Das lag nicht an dem königlichen Ei in seiner Tasche. Es war der Zettel. Zuhause im Büro faxte er ihn sofort an Karl.

Abends legte er eine alte Platte der Stones auf und begann, die Zeichnungen der Leo- und Karlhäuser mit Pastellkreiden zu kolorieren. Er würde die schönsten an der Wand im Laden aufhängen. Im Ofen duftete ein Apfelkuchen. Gleich morgen wollte er seinen Vater besuchen.

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Patricia Koelle
Feuertage
Erzählungen

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Ostern Osterei Marianne Schaefer
Osterei bemalt von Marianne Schaefer

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Patricia Koelle, Geschichten, Kurzgeschichte, Ostern, Osterei, Ostergeschichte, Short Story, Literatur